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Vor 70 Jahren
von Jürgen Boeckh

Leer»Wahrheit, die aus der Stille kommt« - und die »Volksgemeinschaft« Im Jahre 1921 erschien ein kleines Heft von dem führenden Mann der katholischen Jugendbewegung, Romano Guardini: »Neue Jugend und katholischer Geist«. Schon drei Jahre später lag es in zweiter und dritter Auflage vor. Zur gleichen Zeit, im Juli 1921, hat Wilhelm Stählin vor einer großen Versammlung in Heidelberg einen Vortrag über »Jesus und die Jugend« gehalten. Daraufhin erschien das Buch »Fieber und Heil in der Jugendbewegung«. 1924 lag es schon in vierter Auflage vor. Erst im Jahre 1934 (oder 1935) sind sich diese beiden Männer persönlich begegnet: Sowohl Stählin (∗1883) als auch Guardini (∗1885) waren längst über ihre Jugendzeit hinaus, und auch ihre »Wandervogel-Zeit« lag damals hinter ihnen. Als diese Schriften erschienen, bahnte sich (etwa ab 1923) eine neue Form der Jugendbewegung an: Die »bündische Jugend«, die nur ein Jahrzehnt - bis zur »Machtergreifung« der Nationalsozialisten - Bestand haben sollte.

LeerIm »Gottesjahr 1924« konnte man den Aufsatz »Jugend und Kirche« von Walter Kalbe lesen. Im vorjährigen Michaelsheft von QUATEMBER (57. Jg., S. 183) hatte ich bemerkt, daß man im »Gottesjahr« noch besondere anthroposophische Töne vernehmen konnte. Das Gleiche trifft auch für diesen Artikel zu. Bemerkenswert ist übrigens, daß im Jahre 1924 das Wort »Volksgemeinschaft« noch nicht verbraucht und pervertiert war. Die seit 1933 verordnete »Jugendbewegung« wollte von der »Wahrheit, die aus der Stille kommt«, nichts wissen.

LeerDie Not dieser beiden Worte Jugend und Kirche ist schon lange da. Jetzt kommt allmählich auch die Frage. Fast ein wenig spät kommt diese Frage. Wir wollen sie recht bedenken.

LeerScheinbar sind ja die Besorgnisse des Anfangs beseitigt, man braucht der evangelischen Jugend nicht mehr den katholischen Wandervogel vorzuhalten, der erst die Messe besucht, ehe er auf Fahrt geht. Man hält ja jetzt Weihefeiern in der Kirche, die Jugend ersinnt sich eigene Gottesdienste. Aber das geht doch trotz aller Lied- und Lichterseligkeit nur um die Schwierigkeit herum.

LeerDie Jugend ist genötigt, die Kirchennot als ihre eigene Not zu erkennen! Es gab eine Zeit, da war das, was jetzt jedes Familienblatt ausspricht, daß die Jugendbewegung eine religiöse Bewegung ist, frohes Bewußtsein einiger Menschen, die sich gleichsam durch Zeichen bedeuteten, bitte, sagt nur nicht, daß dies Religion ist! Sonst kommen ja nur Menschlichkeiten in diesen Jugendfrühling hinein!

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LeerIn einer Welt, die ganz im Irdischen aufging, die so stolz auf ihre Erdgebundenheit war, wie etwa der edle Jatho in seinen Briefen es ist, in der Zeit der großen Städte und der Technik und Kultur - da ist halt diese Jugend einfach davon gelaufen! Sie hat es nicht mehr ausgehalten unter diesen selbstseligen, gutmütigen, kleinstirnigen Krämern, und es hat sie getrieben, im Rauschen der Wälder, im Geheimnis des Liedes und des Tanzes ein Neues zu schauen. Und dieses Neue hat sie emporgetragen, hat sie gestaltet. Denn wo das Ewige, das Kosmische in Menschen zeltet, da wird es formende Kraft. So ist diese Jugend abgerückt von der Bier- und Weinseligkeit verquollener Genießer, Ekel war ihr das, was als Burschenherrlichkeit ganze Geschlechter verehrt hatten, die rechnenden Narrheiten der Mode hat diese Jugend abfallen lassen, weil sie persönlich empfinden gelernt hatte und Ausdruck Im Äußerlichen, Wesen in der Haltung des Menschen fand. Die Geschlechter bahnten sich die neue Kameradschaft, die auf Verantwortung und Vertrauen beruht, und die möglich war, weil Junge und Mädel knieten vor dem Leuchtenden, das in ihr Leben bestimmend hineingegriffen hatte.

LeerWenn Religion nicht ein Menschenwerk ist, sondern das Schaffen des Ewigen im Menschenkinde, dann war diese Jugend religiös bewegt.

LeerSie war es! Denn die hohe Zeit ist vorbei! Und das ist unsere große Not. Das Gotterleben ist zeitlos. Aber der Mitteleuropäer hat die Sendung, bewußt zu ergreifen, was in ihm wirkt, und sich einzuordnen in den Zusammenhang, in den er gestellt ist. Das Bewegende der Jugend hat Antriebe und Kraft geschenkt, nicht damit sie die Jugend durch sich hindurchgehen läßt, sondern damit die Jugend, also vorbereitet, bewußt mitschafft, soweit sie berufen, bereitet ist!

LeerDas heißt aber, daß die Jugend aus der Zeitlosigkeit in die Zeit sich hineinstellt, daß sie den Zusammenhang findet mit den Schöpferkräften der Menschheit! Tut sie das nicht, so wird sie nur in einem verkrusteten Herrentum neben der Welt stehen, das heißt, sie wird um ihrer persönlichen Wahrhaftigkeit willen die Wahrheit preisgeben, weil sie nicht fähig war, zu dienen, sondern sich um das liebe Ich drehte. Oder die Jugendbewegung wird das Schicksal anderer Durchbrüche erleben und im Untermenschlichen verlaufen, sei es in Geschäftstüchtigkeit, in der ästhetischen Sofaecke oder im wurzellosen Radikalismus, der sich an Luftstößen erfreut.

LeerHier dämmern die Dome unserer Väter auf vor dem suchenden Blick! Freilich, hat nicht diese selbe Kirche durch ihre Vergangenheit erwiesen, daß sie der Jugend nicht helfen kann, ja, gar nicht helfen will. Daß es dieser Kirche um die Jugend nur soweit geht, als sie sich geruhige Steuerzahler sichert. Und ist diese Kirche nicht ganz gebaut in die Welt, aus der die Jugend geflohen iit, um dem Besten treu zu sein? Ja, diese Kirche, diese sichtbare Kirche ist Menschenwerk! Sehr armes Menschenwerk. In dem viel guter Wille da ist, aber ach! dieser Wille brennt doch wie Feuerbrand in uns, weil hier, wo der Gral gehütet werden soll, Menschenwerk so gottlos wirkt!

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LeerUnsere Vergangenheit hat ja so gern unterschieden zwischen Kirche und Reich Gottes, zwischen Religion und dem Christusgeist! Ja, selbst wenn man den besten Willen der Kirchen, versteht, die nach der Revolution Volkskirchen bauen wollten, den Staat ehrlich freigebend, so sieht man gerade in diesen Versuchen das ganze Elend dieser sichtbaren Kirche, die blindlings die Weise der Politik auf die Kirchenverfassung überträgt, damit bekundend, daß sie als Kirche eben in dieser Welt steht, statt das Reich Gottes zu schauen! Während wir doch wissen, daß eine Gemeinschaft, die sich mit Recht Kirche nennt, eben nicht nach dem Zentnergewicht der Abstimmenden entscheiden darf, sondern, daß hier die Majorität der Wahrheit die Mehrheit bilden muß!

LeerSo schauen wir schon hinter dieser Menschenkirche die Schattenrisse eines Domes, der in den Sternen firstet. Und in dieses Schauen klopft das Beste unseres Erlebens mit. Und dieses Erleben verpflichtet uns, nicht mehr neben der Kirche zu stehen, und mit Steinen auf das Menschenwerk zu werfen. Dieses Erleben wird uns selbst zugrunde richten, weil wir ihm untreu werden, wenn wir auf die neue Kirche warten und uns reine Hände sichern wollen, statt die Maurerschürze vorzubinden und mitzubauen an dem, was werden soll und was werden wird und wozu Jugend berufen ist!

LeerDie tiefste Not dieser Kirche ist ihre Unwirklichkeit. Mit Kirchenräten kann man sich in den schönsten Programmen vereinen, ohne eine Verpflichtung für das beiderseitige Leben zu finden. Siegmund-Schultze steht außerhalb der Kirche, die sich in der Wohlfahrtspflege des Staates das abnehmen lassen muß. was sie nicht kann, weil sie keine Gemeinschaft mehr ist. Auf unseren Kanzeln stehen Pfarrer, die nicht Organe des Heiligen Geistes sein wollen, sondern am Schreibtische eine Predigt aufschreiben, die sie dann aufsagen - wenn sie vor der Visitation der Behörden bestehen wollen. Diese Kirche ist unwirklich im weitesten Umfang. Daher kann sie ihre eigenen Worte nicht ernst nehmen. Daher sind die Worte von der neuen Erde, auf die Christen hoffen, verstaubt, und die Kirche wird durch Stützungsaktionen gehalten. Darum versteht man nicht mehr so große Worte wie das von dem Schwert, das zur Sichel umgeschmiedet werden soll.

LeerAber hinter dieser Kirche steht die ewige Geistkirche, und wenn diese sichtbare Kirche wieder zerbrechen kann, wenn sich ihre Hallen auftun, daß die Gewölbe des Himmels hereinschauen, dann beginnt der erfüllende Tag, wo ein Auferstehen kommt, wie es im bewußten Sein der Menschheit nur zwei, dreimal geleuchtet hat.

LeerDie unsichtbare Kirche hat da begonnen, wo sich Menschen mit der höchsten Wirklichkeit verbunden haben, wo sie in Gott genaturet waren, als sie untereinander das Abendmahl feierten. Und dies war die Kirche der Urchristen, daß alle Tage Krone und Kraft fanden in dem Brudermahl, das man bei verschlossenen Läden in irgendeiner Proletenstube feierte. Wie die Rebe mit dem Weinstock verbunden ist, so soll dein Sein verbunden bleiben mit dem Auferstandenen! Nicht ein Bekenntnis verlangt diese christuserfüllte Kirche, sondern eine Kraftverbundenheit. Die Lebenserweis ist. Wer Blumhardt den Vater und den Sohn kennt, weiß, daß diese Christusherrlichkeit auch auf uns wartet, bis wir die Augen aufheben und den Tag erkennen!

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LeerJugend hat ein Schweigen gelernt, das aus einer anderen Wirklichkeit kommt. Die Wurzelkraft des Geistigen unterscheidet das Wort der kommenden und der alten Zeit. Die Jugend, die dem Sternenhimmel und dem Volkslied lauschen konnte, sollte diese Jugend nicht auch der Christusbotschaft die Seele auftun können, bis sie diese Wirklichkeit findet, von der alle Jugendbewegung ein Ahnen, ein erstes Leuchten der Wahrheit gewesen ist?

LeerWer in diesen Zusammenhängen - in Zusammenhängen, nicht in Gedanken! -steht, der weiß, daß wir noch in einem ganz anderen Maße für die Kirche verantwortlich sind. Nicht darum handelt es sich, der alten Menschheit einige Reformen abzuzwingen. Gewiß wird an dem Tag, wo die Verantwortlichen, und das sind immer die Wenigen, sich so in die Kirche stellen, mag sie das Heer der Schwarzröcke wollen oder nicht, gewiß wird an dem Tag eine Revolution beginnen, wie sie da beginnt, wo der Frühling mit seinem Säftestrom die alten Rinden sprengt und dem Leben Bahn schafft.

LeerDas, was wir tun können, ist vor allem, daß wir unsere Jugendgenossen in diese Zusammenhänge hineinstellen, damit immer mehr Menschen schauen, wie aus der Wirklichkeit dieser Kirche die Christuswirklichkeit auferstehen muß! Und daß dieses nur geschehen wird, wenn wir als Verantwortliche uns in diese Menschenkirche mit all ihrer Armut hineinstellen.

LeerWenn diese Kirche sich geradezu zu stemmen scheint gegen den Durchbruch des Göttlichen, so wollen wir diese Schuld tragen als unsere Schuld. Denn wir sind aus unserem Jugenderleben so stolz gewesen, als uns Gott getragen hat in Lied und Fahrt und Feier, und haben noch keine Tat getan, als nach Taten gerufen und bald diesen, bald jenen Heiland ausgerufen, immer für die nächsten vier Wochen! In uns ist die neue Zeit nicht da, sondern nur möglich. Und der Weg heißt, nicht fordern, sondern fördern durch höheres Sein. Höheres Sein wird uns in die geistige Wirklichkeit stellen, aus der heraus Christus wieder aufgenommen werden kann von denkenden Menschen, aufleuchten wird wieder die Vergangenheit, die der geschichtlose Mensch der Neuzeit nur belächeln und verdummen konnte, weil er ihr nicht ebenbürtig war. Und leuchten wird aus neuer Wirklichkeit die Zukunft, die mit dem Werden des Menschen zusammengekettet ist, denn durch den Menschen als den Mitschöpfer Gottes soll die Erlösung kommen.

LeerUnd als letztes wird eine höhere Weisheit uns erlösen. Die Wissenschaft wird in ihre Grenze zurückkehren, wenn wir die alte Parzivalweisheit finden, daß Wahrheit aus der Stille kommt und aus dem Ringen der Werdejahre, ja Werdejahrzehnte, bis der Mensch den Zugang zum Gral findet.

LeerSehnt sich die Jugend nach Volksgemeinschaft - in dieser Geistkirche wird sie sein. Denn da werden nicht oben und unten sich befeinden, sondern Menschen in Gottes Freiheit sich erkennen. Und aus den Tiefen des Volkstums werden Quellen rauschen, die selbst die Bildungswut der letzten Geschlechter nicht stopfen konnte. Und der Schäfer der Einsamkeit wird sich berühren mit dem Denker in einer höheren Wirklichkeit, deren Leuchten der Jugend geschenkt war, sie bewegt hat und aufleuchten wird als Altarflamme der neuen Kirche, deren Werkleute wir sein wollen.

Das Gottesjahr, 1924,4. Jg. Greifenverlag, Rudolstadt/Thüringen

Quatember 1994, S. 180-183

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-07
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