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von Christian Andrae |
Wilhelm Stählin: Oldenburger Nachkriegs-Predigten. Ausgewählt und herausgegeben von Udo Schulze. Niedersächsische Bibliothek Geistlicher Texte. Bd. 3. Lutherisches Verlagshaus. Hannover 1994, 257 Seiten, 27,30 DM »Was sollen wir einander wünschen zu diesem neuen Jahr das so dunkel vor uns liegt? So sehr haben wir die Ohnmacht all unserer Hoffnungen und Wünsche erfahren, daß wir leicht in eine Resignation sinken, die das Wünschen überhaupt verlernt hat. Freilich, auch in den müde oder stumpf gewordenen Herzen steigen dann doch immer wieder die sehr natürlichen Wünsche auf, wir möchten bewahrt bleiben von dem schlimmsten Elend und einem schrecklichen Ende; wir können es nicht hindern, daß wir uns freuen, wenn wir wieder einmal verschont worden sind, obschon wir wissen, daß an anderen Orten nun das Grauen waltet. Sollen wir also aufhören zu wünschen? Nein! Aber wir sollten darauf bedacht sein, daß immer mehr die kleinen und ohnmächtigen Wünsche aufgezehrt werden von den großen Wünschen, von den großen Hoffnungen, die unser Christenglaube immer neu in uns erweckt. Laßt es euch nicht verdrießen, dazu einen etwas mühseligen Weg zu gehen, auf den uns die alte Epistel des Neujahrstages weist.« (S. 38). Das Wünschen ist am Anfang dieses neuen Jahres fraglich geworden. Der Prediger redet uns einfühlsam als solche an, die dabei sind, aufgrund enttäuschender Erfahrungen mit dem Wünschen aufzuhören und zu resignieren. Er deckt dann freilich auch auf, daß eine gewisse Art von »sehr natürlichen Wünschen« wie der Wunsch, vor dem Schlimmsten verschont zu bleiben, doch nicht ganz in uns erlischt. Er vergegenwärtigt das Dilemma, in das solches Wünschen führt: Wir freuen uns, wenn es sich erfüllt, und haben zugleich Schwierigkeiten mit solcher Freude, weil doch so viele andere nicht verschont werden. So stellt der Prediger uns die Ambivalenz des Wünschens in dieser Zeit vor Augen. Er sagt »wir« und scheint solche resignative Ambivalenz selbst zu kennen. Als Prediger aber bleibt er nicht dabeistehen. Mit einem energischen »Nein« weist er uns einen Weg aus solchen Erfahrungen: Er räumt uns das Recht ein, weiter zu wünschen, was uns am Herzen liegt. Aber er rät uns, unser Wünschen zu erweitern. Er legt uns nahe, daß wir unsere »kleinen und ohnmächtigen Wünsche« von größeren »aufzehren« lassen. Er bringt solche großen Wünsche in Zusammenhang mit dem Glauben. Er kündigt an, darüber anhand eines Bibeltextes mit uns nachzudenken. Dabei verschweigt er nicht, daß dieser Weg ein mühseliger wird. Der Prediger, der sich hier einfühlsam als Kenner unserer geplagten Seelen zeigt, zugleich aber entschlossen als Ratgeber und Lehrer auftritt, um uns den Horizont zu weiten, heißt Wilhelm Stählin. Er redet so zu seiner Gemeinde in Oldenburg-Osternburg am 1.Januar 1945. Was soll und kann eine solche Veröffentlichung von »Oldenburger Nachkriegspredigten« heute leisten? Wenn man Schulzes 14seitige »Einleitung« liest, schlägt einem warme Sympathie für Stählin und sein Lebenswerk entgegen. Wie schon in früheren Veröffentlichungen geht es Schulze darum, Leben und Werk des Mannes in Erinnerung zu halten, dessen Ideen in Oldenburg, insbesondere in den kirchenleitenden Organen, auf viel Widerstand gestoßen sind und dessen Wirken als Bischof infolgedessen bis heute leicht als gescheitert angesehen wird. Diesem sicher vorschnellen Urteil entgegenwirkend hebt Schulze in seinem Lebensabriß mehrmals Stählins Wirkung als Prediger, Redner und Liturg in Oldenburg hervor, die er teilweise auch aus eigener Anschauung kennt: »Viele Menschen kamen, um den Prediger Stählin in der Garnison-, der Lamberti-, der Dreifaltigkeitskirche zu hören.« (S. 7) - »Wer sich erinnert an Predigten und Vorträge, der weiß, daß ihm ... Fragen der Sprache wichtig waren. Er blieb bis ins hohe Alter Meister in der Auslegung sprachlicher Eigentümlichkeiten, wobei er zugleich seine eigenen sprachlichen Fähigkeiten einzusetzen wußte.« (S. 12) - »Stählin wünschte und brauchte eine Kirche, in der er modellhaft seine Vorstellungen entwickeln konnte. Es war die ehemalige Garnisonskirche.« (S.16) - »Der Stein im Wasser bildete Ringe, schwächer werdend, aber nicht verebbend in den Gemeinden. Ich weiß nicht, wie die oldenburgischen Gottesdienste heute aussähen ohne das, was seit 1946 in der Garnisonkirche geschieht.« (S. 17) - Es war »eindrücklich, wie sich bei Stählins Gottesdiensten auch die große Lambertikirche füllte, wie bei seinen Vorträgen auch die wenigen Aulen, die es damals in der Stadt Oldenburg gab, eigentlich immer zu klein waren. Daß der Professor dabei gerade auch die Dozenten der Pädagogischen Akademie bzw. seit 1948 der Pädagogischen Hochschule ansprach, war wohl auch damals nicht einfach selbstverständlich.« (S. 17). Diese »theologische Komponente« findet m. E. ihren genuinen Ausdruck nicht zuerst in den Schulstreitigkeiten, die Kirchenleitung und Pastorenschaft damals mit- und gegeneinander ausfochten. Die Theologie, die wirksam wurde, ist in Predigten und Vorträgen dokumentiert, wie sie für Stählin in Schulzes Band zu finden sind. Ohnehin lebt Stählins Theologie maßgeblich in der Predigt und in predigtverwandten Sprachformen. Zwar ist neuerdings auch das Interesse an den systematisch-theologischen Grundlagen von Stählins Denken erwacht (Hans Eduard Kellner: Das theologische Denken Wilhelm Stählins Frankfurt, 1991 vgl. dazu den Aufsatz von Kellner; Michael Meyer-Blanck: Leben, Leib und Liturgie. Die Praktische Theologie Wilhelm Stählins. Berlin/New York, 1994). Doch dokumentieren schon die voneinander abweichenden Versuche, Stählins Denken um systematische Schlüsselbegriffe zu gruppieren, wie schwierig es ist, diesen kreativen Meister der kleinen theologischen Sprachformen auf ein systematisch-theologisches Denkgebäude zu reduzieren. Meyer-Blanck räumt denn auch ein: »In der Tat darf nicht vergessen werden, daß Stählin bei aller Kritik an der Verabsolutierung der Predigt und bei aller Liebe zur Liturgie sowohl persönlich wie literarisch wohl am meisten als Prediger bzw. als Autor der ‚Predigthilfen’ gewirkt hat.« (Meyer-Blanck, S. 26 ff., Anm. 115) Gleichwohl finden die zahlreichen gedruckten Predigten in den erwähnten Untersuchungen keine ihren Sprachformen gemäße theologische Interpretation.. Oder, um ein Beispiel aus der Liturgik zu nennen: Stählins auf protestantischer Seite oft kritisiertes Interesse am »heiligen Raum» und dem damit verbundenen Wirklichkeitsverständnis des Sakramentalen zeigt sich in einer vorwiegend für neu Konfirmierte gehaltenen Predigt so:. »‚Ich will hingehen’, heißt es. Ihr seid vorhin durch die Tür dieses Gotteshauses hineingeschritten, durch dieselbe Tür, durch die ihr hernach wieder entlassen werdet in euren alltäglichen Lebensraum. Zu dem, was ich bei dieser Kirche hier in Osternburg liebgewonnen habe, gehört auch, daß da nicht ein großes und prächtiges Portal ist, sondern eine enge Pforte. Man spürt: Wenn ich durch diese Pforte hineingehe, dann trete ich wirklich ein in einen inneren Raum. Wir wissen genau was draußen ist - Draußen ist die Straße; da sind Autos und Wagen; da sind marschierende Soldaten, und da ist der ganze Verkehr und das ganze Leben unseres Alltags; da sind unsere Häuser unsere Wohnungen, unsere Arbeitsstätten unsere Schulen, unsere Werkstätten, unsere Äcker und Ställe. Das ist ‚draußen ’, und in diesem Raum leben wir und in diesen Raum kehren wir immer wieder zurück. Es gibt aber auch einen inneren Raum, da steht der Altar Gottes, an dem das Sakrament gefeiert wird, einen geheiligten Raum, über dem unsichtbar steht.- ‚Allein Gott in der Höh' sei Ehr!’ In diesen Raum sind wir nun eingetreten. Jetzt sind wir ‚drinnen’, aber wir werden wieder ‚draußen’ leben. Freilich: Ein Mensch, der jemals wirklich ‚drinnen’ gewesen ist, der ist auch draußen ein anderer Mensch als alle, die immer nur ‚draußen’ sind. Es erbarmt mich, meine Freunde, daß so viele Menschen ihr ganzes Leben lang draußen bleiben, draußen vor der Tür und wissen kaum, daß da eine Tür ist durch die man hineingehen kann, hinein in einen anderen Raum.« (S. 64 f.,18. März 1945). »Niemand von uns hätte gewagt, für den Gottesdienst, mit dem wir diese Tagung unserer Synode eröffneten, diese Verse als Predigttext zu wählen; und niemand hätte das Recht gehabt, eine solche Wahl zu treffen. Viele von euch werden teilhaben an dem Schrecken, der mich überfiel, als ich entdeckte, welche Lesung uns für diesen Morgen nach dem Gang des Kirchenjahres verordnet ist. Aber eben darum gibt es eine solche Ordnung, und eben darum halten wir uns bewußt an eine solche Ordnung, damit wir auch den Texten standhalten, die unbequem und unheimlich sind, vor denen uns die Sprache versagen möchte; wir sollen die seichten Gewässer unserer Lieblingsgedanken verlassen und uns dem Meer des göttlichen Wortes mit seiner unergründlichen Tiefe und seinen Stürmen anvertrauen, auf die Gefahr hin, daß hier die Wellen über uns zusammenschlagen, so daß kein Faden an uns mehr trocken bleibt und wir in einem solchen Sturm zu Schaden kommen und zuschanden werden.« (S. 191, 18. März 1952). Udo Schulze trägt übrigens Stählins Eintreten für die Verankerung der Predigt im Text und im Kirchenjahr dadurch Rechnung, daß er die Oldenburger Nachkriegspredigten weitgehend nach dem Kirchenjahr ordnet und arm Schluß mit einem Bibeltextverzeichnis versieht. Das erschwert den historisch Interessierten das Aufsuchen der Texte in chronologischer Reihenfolge. Es macht jedoch die Predigten leicht zugänglich für alle, die sich daraus Anregungen für das eigene Predigen erhoffen oder Erbauung im Rhythmus des Kirchenjahres suchen. Dazu eignen sich diese Texte in der Tat. Trotz einiger zeitgeschichtlicher Anspielungen sind sie im besten Sinne des Wortes erbaulich: sorgfältig in ihrer Beachtung der biblischen Texte, einfühlsam im Blick auf menschliche Grunderfahrungen, befreiend durch einen weiten Horizont und vergewissernd durch ein entschiedenes Wirklichkeitsverständnis aus der Perspektive des Glaubens. Der Verlag hat Stählins Oldenburger Predigten in die »Niedersächsische Bibliothek Geistlicher Texte« aufgenommen. Dort erscheint er nun als geistlicher Vertreter des 20. Jahrhunderts neben Karl J. Spitta aus dem 19. und Johann E. Jerusalem aus dem 18.Jahrhundert.. Quatember 1996, S. 181-184 © Dr. Christian Andrae |
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