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Zehn Leitsätze zur Frage des täglichen Gemeindegebetes
von Heinz Siebrasse

Leer1. Tägliches öffentliches Gemeindegebet in der Kirche ist notwendig und ist seit den Tagen der Alten Kirche und bis in das vorletzte Jahrhundert hinein auch in der lutherischen Kirche die unverbrüchliche Ordnung gewesen.

Leer2. Der Pietismus hat das tägliche Gebet der Kirche in die Konventikel der Erweckten hinübergenommen und wurde damit, wenn auch unbewußt, ein Wegbereiter des Rationalismus, sofern dieser die Ordnungen der Kirche vollends auflöste und verflüchtigte. Unsere heutige gottesdienstliche Praxis ist der Torso aus dieser Entwicklung.

Leer3. Der vermeintlich urchristliche Gedanke der pietistischen Hausgemeinden als Aufbauzellen der Kirche ist heute bestenfalls ein frommer Wunsch. In der Urgemeinde war die Hausgemeinde identisch mit der werdenden Kirche, diese aber von Anbeginn an ein lebendiger Organismus und mehr als die Summe ihrer Teile. Es gilt zu erkennen, daß nur aus der Gemeinschaft am Heiligen d. h. aus der Kirche die Kraft zur Bildung von Hausgemeinden fließt und nicht umgekehrt.

Leer4. Unsere evangelische Predigt und Liturgie hat weithin den Charakter pietistischer Erbaulichkeit und Willkür bekommen; deshalb die Wertschätzung der durch die Individualität des Predigers bedingten Auslegung des Wortes. An hervorragender Stelle ist von der Kirche als Sprechsaal religiöser Meinungen in bitterem Tadel gesprochen worden (Wilhelm Zöllner).

Leer5. Es gilt daneben die Kirche wieder zu sehen als die Gemeinschaft der Beter, die zugleich mit der vollendeten Kirche vor Gottes Thron anbetet. Die Kirche kann aber nur anbeten in festen objektiven Formen, in die jedes subjektive Anliegen sich einfügt. Diese Form, die Liturgie der Kirche, ist nicht willkürlich, sondern organisch geworden.

Leer6. Die Formen der Kirche verkennen nicht die Schöpfungswirklichkeit, die Lage des Menschen in seiner Ganzheit, seine leib-seelische Einheit. Leib und Seele beten immer zugleich an, weil der Mensch nicht ein reiner Geist ist oder den Geist zur Verfügung hat. Aller Spiritualismus streitet wider die Schöpfungsordnung und ist von der Alten Kirche mit Recht abgelehnt worden.

Leer7. Die Sinnenfälligkeit aller Andacht zu Gott und alles Handelns Gottes an uns stellt uns vor eine ernste, weithin als nebensächlich behandelte Aufgabe: die Gestaltung des Raumes. Sie erwächst nicht aus einer Besinnung auf echte kirchliche Kunst allein, sondern aus einer neugeschenkten kindhaft-religiösen Haltung. Der kirchliche Raum ist nicht nur zum Hören der Predigt bestimmt, sondern muß heute wieder mehr denn je das Bethaus der Gemeinde werden und sollte der Möglichkeit zum Knieen und des Sammlungspunktes im Kreuze nicht ermangeln.

Leer8. Das Gebet der Kirche, die Liturgie, ist, wie sie organisch geworden, so auch innerhalb des Kirchenjahres eine organische Einheit. Deshalb kann sich nur ein beharrender Beter in sie einfügen. Alles gelegentliche, nur probierende Tun ist hier nicht nur vom Übel, sondern macht das Gebet der Kirche willkürlich, verdunkelt seinen Sinn und schadet deshalb nur, weil Probieren kein Darin-Leben ist.

Leer9. Es gilt also einzusehen, daß der übliche sonntägliche Predigtgottesdienst nur der gebliebene Rest kirchlicher Ordnung ist, daß nicht die Reformation diese Reduktion herbeigeführt hat, und daß wir in unserer gottesdienstlichen Übung Kinder und Erben des Rationalismus und nicht der Reformationskirche sind. Denn diese hat wenigstens in der lutherischen Konsequenz ein reiches kultisches Erbe angetreten, dem Wesen ihrer evangelischen Erneuerung angepaßt und treu bewahrt. Erst die Aufhebung des objektiven Charakters kirchlich- liturgischen Betens durch Subjektivismus und Individualismus und das Unvermögen eines säkularisierenden Rationalismus, das Wesen der Kirche in der Tiefe zu erfahren, haben unsere heutige kultische Verarmung herbeigeführt.

Leer10. Aus allem ergibt sich die Aufgabe derer, die zu künftigen Dienern der Kirchs bestellt sind. Es gilt in Bescheidenheit und Treue einen vergessenen Dienst wieder aufzunehmen, nicht um unsert- oder der Kirche willen (diese Fragestellung verkennt den neutestamentlichen Charakter der Kirche als corpus Christi und die Ungeschuldetheit der Gnade), aber in Buße über ein Versäumnis, darüber wir nicht zu richten haben, von dem wir aber wissen müssen, daß das Gericht Gottes bei dem Hause Juda anhebt.

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1931/32, S. 22-23

Siehe dazu die Leserbriefe

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-16
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