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Die musikalische Begehung der Passion Christi
von Walter Blankenburg

LeerEs ist nicht nur im Mittelalter, sondern auch im Reformationsjahrhundert in der protestantischen Kirche weithin feststehender Brauch gewesen, in der Karwoche an verschiedenen Tagen die einzelnen Berichte der Leidensgeschichte ungekürzt im Gottesdienst zu lesen. Diese Aufgabe lag selbstverständlich zunächst in der Hand der Pfarrer, aber da sich die Kunstmusik gern dieser gottesdienstlichen Aufgabe annahm, so entstand die umfangreiche Literatur der „Passionen” . Wenn wir heute mit besonderem Verlangen an eine musikalische Begehung der Passion Christi herangehen, so steht vor unseren Augen immer zuerst das Bild der gesungenen Passion selbst. Nicht daß hierin die einzige Möglichkeit, die Kirchenmusik in den Dienst der Passionszeit zu stellen, sich böte, Wohl aber ist es die naheliegendste und wichtigste. Sicherlich wird es in unserer Zeit und bei den uns gegebenen gottesdienstlichen Ordnungen schwierig sein, zu dem mittelalterlichen Ursprung der musikalischen Passion zurückzukehren, während jedoch eine Form aus der protestantischen Zeit uns ganz besonders gegenwartsnah erscheint. Das ist die sogenannte  C h o r a l p a s s i o n .

LeerSie stellt eine Fortbildung des mittelalterlichen liturgischen Vortrags der Passionsgeschichte dar, zu dem drei Liturgen benötigt wurden, einer für die Evangelistenworte, dessen Rezitationston das c' war, einer für die Herrenworte, dessen Rezitationston bezeichnenderweise das tiefere f war, und einer für die Worte der übrigen einzelnen Personen, dessen Rezitationston das höhere f' war. Bei den Worten mehrerer Personen (Jünger, Pharisäer, Juden, Kriegsknechte usw.) sangen die Liturgen zusammen. Diese Grundform mit dem sogenannten Passionston ist in der protestantischen Zeit beibehalten worden, nur daß jetzt an die Stelle des dreistimmigen Gesanges der drei Liturgen vierstimmige Chorsätze, die sogenannten Turbaechöre, traten.

LeerSelbstverständlich bewegt sich die Rezitation nicht ausschließlich auf einem Ton, sondern sie geht - wie etwa Luther in seiner „Deutschen Messe” Anweisungen gibt über den musikalischen Vortrag von Epistel und Evangelium - von einer Anfangswendung aus auf den Rezitationston, der nicht der Grundton ist, von dem dann nur kurz bei einem Komma die Stimme abweicht, um dann auf ihm weiter fortzufahren und schließlich zum Satzschluß auf den Grundton zurückzulenken. Diese ganze Art des Passionsvortrages ist gerade in ihrer einfachen, gleichmäßigen Strenge, durch die freilich immer die ganze Dramatik des Geschehens, besonders in den Chören, hindurchklingt, unausweichbar eindringlich. Eine geschichtliche Wirklichkeit wird ungekürzt vor unser Augenmerk gestellt. Dabei unterstreicht eben die chorale Gebundenheit des Vortrags die Objektivität der Leidensgeschichte; ein Stück aus der Mitte der christlichen Botschaft steht ohne individuell menschliche Zutat vor uns und spricht uns an.

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LeerDaß nun die meisten Choralpassionen, was ihre technische Seite betrifft, so einfach sind, daß sie auch etwa von ländlichen Kirchenchören einschließlich der Einzelstimmen (1) ohne Schwierigkeiten gesungen werden können, so ist damit wohl einfach  d e r  Weg vorgezeichnet für eine musikalische Begehung der Passion in unserer Zeit. In Frage kommen hierfür die verschiedenen Passionen von Johann Walter, die jedoch im Augenblick noch nicht in praktischen Neu ausgaben vorliegen (die Chöre sind soeben im „Handbuch der evangelischen Kirchenmusik” erschienen), aber die Behebung dieses Notstandes wird sicher nur eine Frage der Zeit sein; sodann die Thomas Mancinus-Passion (die sogenannte Celler Passion) und die Vulpius-Passion, an die sich die drei Schütz-Passionen als späteste anschließen (sämtlich im Bärenreiter-Verlag neu herausgegeben).

LeerSeitdem sind keine Werke dieser Gattung mehr geschaffen worden. Das hat seinen Grund darin, daß die Entwicklung zu einer immer stärkeren Hervorkehrung des dramatischen Elementes in der musikalischen Gestaltung führte. Bei Schütz ist es dann so weit gekommen, daß dabei die Choralgebundenheit gesprengt worden ist, darin liegt Fortschritt (infolge der gewaltigen Ausdruckskraft) und Rückschritt zugleich. Wahrend daher diese in ihrem Schwierigkeitsgrad nicht von jedem Chor bewältigt werden können, so ist doch der Schreiber dieser Zeilen gerade dabei, die Vulpius-Passion in seiner Landgemeinde für die diesjährige Karwoche vorzubereiten. Die Frage, in welcher Weise nun die Choralpassion in eine Gottesdienstordnung einzufügen ist, wird am besten dahin zu beantworten sein, daß sie nicht im Hauptgottesdienst (sei es, daß wir dabei an den ortsüblichen Hauptgottesdienst oder auch an die Feier der Deutschen Messe denken) zu singen wäre, um nicht die Feier zu überlasten. Sie würde auch heute wie früher ihren besten Platz in der Vesper (einem Neben- oder Sondergottesdienst) haben, wo sie die Stelle der Tageslesung zu vertreten hätte.

LeerDa viele Gemeinden es erst wieder lernen müssen, einem streng liturgischen Gesange aufmerksam zu folgen, ist es eine Hilfe, wenn bei größeren Einschnitten die Gemeinde einen Vers singt. So haben wir einmal einzelne Verse von Paul Gerhardts „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld” zwischen den Abschnitten von Schütz Lukaspassion gesungen. Dabei ist dann darauf zu achten, daß die Liedstrophen um der Geschlossenheit des Ganzen willen in gleicher Tonhöhe wie die Passion (am besten nach altkirchlicher Tradition ohne Orgel) gesungen werden. Soll eine Predigt stattfinden, so geschieht sie am besten in der Mitte der Passion, wie ja auch zu Bachs Zeiten dessen Passionen im Vespergottesdienst mit Unterbrechung durch eine Predigt aufgeführt wurden. Ist keine besondere Vesperordnung ortsüblich, so müßte sie zumindest mit Eingangslied, Psalm und Kollekte vor der Passion und danach mit Schlußgebet, Ausgangslied und Segen geschaffen werden.

LeerBei der Auswahl der Lieder liegt es nahe, ein betrachtendes Lied der Choralpassion gegenüberzustellen. Unsere protestantischen Passionslieder sind zumeist Bußlieder; hierher würden freilich auch die sogenannten Lamentationen passen, deren das Gesangbuch der böhmischen Brüder verschiedene enthält. Das Tageslied „Da Jesus an dem Kreuze stund” oder ein Lied wie „Christus, der uns selig macht” sind selbst Passionen und zwar Gemeindeliedpassionen. Wollen wir sie in einem solchen Vespergottesdienst verwenden, dann müssen die einzelnen Strophen jeweils an die allein mögliche Stelle eingefügt werden.

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LeerMöchte so die Choralpassion den Weg wieder zurückfinden in die Begehung der Karwoche! Jedenfalls sollten wir bei der Frage nach der musikalischen Gestaltung an sie zu allererst anknüpfen. Darüber hinaus braucht nichts gesagt zu werden über einzelne Passionsmotetten, Evangeliensprüche, Choralsätze und -motetten für die Passionszeit, von denen allen ja heute eine große Auswahl in praktischen Neuausgaben zur Verfügung stehen und die ihren Platz finden können wie in den sonntäglichen, sowie in den besonderen Passionsgottesdiensten. An die Gemeinden, die zur Zeit eine gesungene Passion noch nicht vorbereiten können, sei die Frage gerichtet, ob sie nicht mit einer Gemeindeliedpassion in schlichtester Form (ein- oder zweistimmige Gesänge im Wechsel von Männern und Frauen, je nachdem, wie es der Inhalt erfordert) die Passion begehen wollen. Für die gottesdienstliche Einordnung würde das Gleiche gelten wie für die Choralpassion (hier natürlich ohne Zwischenstrophen), wie das auch für die großen Passionen Bachs oder auch für die motettische Passion etwa eines Leonhard Lechner gilt. Möchten sie alle überhaupt erst einmal wieder ihren festen Platz im Gottesdienst finden und dem Konzertsaal sowie auch dem Kirchenkonzert endlich und endgültig den Rücken kehren!

LeerAuf eine neue Form der Passion muß noch hingewiesen werden, nämlich die kleine Passion von Fritz Dietrich, die soeben im Bärenreiter-Verlag erschienen ist und die, ähnlich seiner Weihnachts- und Dreikönigskantate, für zwei- bis dreistimmigen Chor für gleiche Stimmen, zwei liturgische Sänger, zwei Geigen, Alt- und Tenorblockflöte, sowie Cello (bzw. Gambe) gesetzt ist. Sie darf deshalb an dieser Stelle aus der Reihe neuer Passionen besonders genannt werden, weil sie bei aller künstlerischen Originalität doch zugleich nur bescheidenes Können verlangt und darum den Weg in die Gemeinden finden kann. Zudem trägt sie streng liturgischen Charakter trotz der verwandten Instrumente. Durch die kleine Kantate zieht sich das Lied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir” hindurch, während der berichtende Text, der ebenfalls im phrygischen Ton gesetzt ist, aus einer Gemeindeliedpassion („Jesus der ging den Berg hinan” ) entnommen ist.

LeerVon diesem letztgenannten Lied gibt es einen einfachen vierstimmigen Satz mit einer eigenen Melodie, der in den Finkensteiner Blättern veröffentlicht ist. Einen Ausschnitt aus der Passion Christi stellt schließlich noch das ebenda erschienene sogenannte Pilatuslied dar, das sich im Wechsel von einstimmigem Männerchor (Worte des Pilatus) mit dem Zwischenruf des Volkes („Kreuzige in” ) und dreistimmigem Frauenchor (Betrachtung des Leidens Christi) vollzieht. Diese kleinen Werke können eine gute Hinführung und Vorbereitung sein auf das, was wir allerdings eigentlich wieder erreichen wollen, nämlich daß uns in den Gottesdiensten der Karwoche die ganze Leidensgeschichte dargeboten wird.

LeerAnm. 1: Es ist sogar dringend zu warnen vor Beschaffung von bezahlten Solisten, um dem Singen alles Konzertante zu nehmen. Pfarrer, Kantor oder selbstverständlich auch einzelne Chorsänger sollten für die Einzelstimmen allein in Betracht kommen.

Evangelische Jahresbriefe 1938, S. 44-48

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-05
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