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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerAuf zwei sehr verschiedenen Wochen zu Anfang dieses Jahres haben wir die gleiche Erfahrung gemacht, daß lange Erörterungen und Diskussionen über die uns bewegenden Fragen heute keine entscheidende Hilfe gewähren. Mit wachsender Deutlichkeit werden wir, und wahrhaftig nicht wir allein, auf zwei andere Wege gedrängt. Einmal auf eine entschiedene und ernsthafte Bibelarbeit. Dabei kann es uns geschehen, daß wir unversehens vor unsere höchst aktuellen Fragen gestellt werden und eine sehr lebendige und deutliche Antwort empfangen. Und es ist eine überraschende und sehr beglückende Nebenwirkung dieser Bibelarbeit, daß uns die Heilige Schrift unabhängig macht von der theologischen Schulsprache und daß sich an einfachen biblischen Bildern Menschen zusammenfinden, die durch alle theologischen Begriffe weder zur Sache noch zueinander geführt werden. Das andere ist die Erfahrung von der wunderbaren Kraft kultischen Lebens. Wenn man miteinander gesungen und gebetet, miteinander gehört und geschwiegen hat, miteinander das Heilige Mahl gefeiert hat, dann lösen sich verkrampfte Gegensätze, dann werden schwierige Fragen wie von einem inwendigen Licht erleuchtet, und man kann in ganz anderer Gelassenheit, Geduld und Hilfsbereitschaft miteinander reden. Es ist sehr wahr, daß auch unsere Sprache und unsere Reden einer Reinigung ja einer Befreiung von dämonischer Zerstörung bedürfen, und daß diese Reinigung von dem am Altar gesprochenen Wort ausgehen muß.

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LeerBei jedem Gespräch über Liturgie, besonders etwa über unsere Ordnung der Deutschen Messe, taucht mit großer Regelmäßigkeit die Klage auf, diese Ordnungen seien zu kompliziert und es mangele ihnen die Einfalt. Es ist nun freilich sehr lehrreich, daß diese Klagen fast immer von Theologen kommen und daß dann die Nicht-Theologen sich wehren und diesem Vorwurf widersprechen. Liegt das nicht vielleicht an einer gründlich verschiedenen Art, ein liturgisches Geschehen aufzunehmen? Wer ihm überwiegend gedanklich begegnet und es auf seinen theologischen Gedankengehalt und Aufbau kritisch prüft, der findet natürlich unendlich vieles, worüber er nachdenken und womit er sich „auseinandersetzen” muß. Und wir beklagen uns denn wohl, es sei schwierig und kompliziert, was wir mit unserem kritischen Verstand nicht ohne weiteres aufnehmen können, und rufen nach jener „schlichten” Kürze, die sich auch dem denkenden Bewußtsein mühelos anschließt. Aber verwechseln wir dann nicht die Einfachheit oder Ärmlichkeit der Form mit der Einfalt des Herzens? Alle Ordnungen werden uns erst dann einfach erscheinen, wenn wir in ihnen leben und uns von ihnen umschließen und mitnehmen lassen als von einem lebendigen Geschehen. Für die Menschen, die das nicht können, wird wirklich alles zu kompliziert. Aber die reiche Fülle des liturgischen Lebens und die Einfalt des Herzens sind keine Gegensätze.

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LeerAus einem Brief: „Am vergangenen Montag sprach hier Pfarrer R. über den „Bilderdienst”; eine entschiedene Ablehnung der Berneuchener, die mit Bildern, Zeichen und Symbolen Götzendienst treiben. Pfarrer R. bedenkt aber nicht, daß man auch mit dem Wort Götzendienst treiben kann.”

LeerAus einem Brief: „Wir haben es gemeinsam erlebt, daß die feste kultische Ordnung dieser Tage uns nicht einengte, sondern wunderbar trug, daß sie eine wirkliche Ordnung war, die alles dem Durcheinander und Auseinander und Widereinander entnahm und zu einem Zueinander und Ineinander und Miteinander machte. Und doch fühlen wir: wenn es so etwas wie eine geistliche Lebensordnung nur in den Tagen gemeinsamen Lebens gäbe und es nicht zur Verwirklichung im Alltag mit seinen tausend Bindungen und Hemmungen kommen könnte, dann wäre es nichts wert. Wir sind aber nun der festen Überzeugung, daß in der Tat eine Lebensordnung von dem Mittelpunkt des „Seins in Christo” her gewonnen und verwirkliche werden kann, ja daß sie für alle, auch für Familie, Stand und Volk gewonnen werden muß, soll überhaupt unser Leben noch ein Leben des Tages sein.”

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LeerKürzlich sagte uns einer unserer Freunde, es gehe der heutigen Menschheit mit vielen Weltproblemen, wie es ihm mit seinem Dackel erging. Er habe sich viel mit diesem Tier befaßt und schrecklich mit ihm geplagt; aber so lange er selber nicht in Ordnung sei, werde er auch mit seinem Hund nicht fertig.

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LeerDie Frage der Einzelbeichte macht immer wieder dem und jenem zu schaffen. Kürzlich las ich in einem Brief: „Ich habe monatelang über die Privatbeichte nachgedacht und kann zu keinem anderen Ergebnis gelangen als zu dem: sie ist mit dem evangelischen Bekenntnis unvereinbar. Die reformatorischen Bekenntnisschriften verstehen die Sünde von der Erbsünde her...; die Privatbeichte entspricht der katholischen Sündenlehre, die nur das peccatum actuale (die einzelne aktuelle Sünde) kennt, ihre Wiedereinführung würde den Akzent in katholischer Weise auf das peccatum actuale verlegen; das würde dazu führen, daß man an Symptomen kuriert und das wesenhafte Sündig-Sein übersieht. Die Beichte hat in der lutherischen Kirche . . . nur als vorbereitende Reinigung vor dem Mahl des Herrn Sinn.” - Der Brief, in dem diese Sätze standen, war nicht an mich gerichtet, und ich hatte also keinen Anlaß, dem Briefschreiber darauf zu antworten. Sonst müßte ich leider sagen, daß jeder einzelne dieser Sätze falsch und das Ganze ein gefährlicher Irrtum ist. Der Unterschied zwischen der evangelischen und der katholischen Auffassung von der Sünde liegt gewiß nicht darin, daß diese nur die einzelne Tatsünde, jene nur die Erbsünde, das sündige Wesen kenne.

LeerMan lese nach, wie Luther in seiner Anweisung „Wie man die Einfältigen soll lehren beichten” zur Selbstprüfung auf einzelne Sünden und Versäumnisse anleitet und wie er den Beichtenden zum Beispiel sprechen läßt: „Da und da habe ich nicht getan, was mich meine Herren hießen, habe sie erzürnt und zu fluchen bewegt... bin auch in Worten und Werken schambar gewesen, habe mit meinesgleichen gezürnt, wider meine Frau gemurrt und geflucht . . .” Ist das bloßes Sündig-Sein oder sind das sehr konkrete peccata actualia? Wie kann der Briefschreiber vollends die Bekenntnisschriften für seine Meinung anführen? Er weiß doch als Theologe, was im 25. Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses über die Beichte steht; er kennt doch wohl den Cranach-Altar in Luthers Predigt-Kirche, wo die Einzel-Beichte neben Taufe und Abendmahl als das 3. Sakrament der evangelischen Kirche dargestellt ist, und er weiß doch wohl, daß die Beichte, die der Vorbereitung und Reinigung vor dem Heiligen Mahl dienen sollte, bis gegen das Ende des 17. Jahrhunderts niemals etwas anderes als die Einzelbeichte gewesen ist.

LeerEs ist bedenklich und gefährlich, wenn man heute Dinge, die die Reformatoren mit allem Fleiß bewahrt und gepflegt haben, die aber der spätere Protestantismus hat verfallen lassen, als unevangelisch oder katholisch verdächtigt und damit einen entarteten Protestantismus zum Maßstab macht für das, was in unserer Kirche Daseinsrecht haben soll oder nicht. Schließlich ist die von dem Briefschreiber vertretene theologische Meinung wirklich ein seelengefährlicher Irrtum: hier waltet die protestantische Scheu vor dem Konkreten, hier ist Sünde ein Begriff statt einer aktuellen Wirklichkeit. Man sieht, wie es Esther von Kirchbach ausgedrückt hat, „die Bäume vor lauter Wald nicht” und begnügt sich schließlich mit dem Bekenntnis allgemeiner Sündhaftigkeit statt konkrete Sünden zu bekennen und konkret Buße zu tun. Lauert bei dieser Verteidigung des Protestantismus nicht genau die gleiche Gefahr wie bei dem von Luther bekämpften Ablaßhandel, daß dem Menschen die ins Einzelne, ins „Aktuelle” gehende Sündenerkenntnis und Bußfertigkeit erspart werden muß?

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LeerDie im vorigen „Brief” (S. 30) angekündigte kleine Schrift über „Berneuchen” ist inzwischen erschienen. (1) Zum erstenmal hat einer von uns versucht, in einer zusammenfassenden Darstellung öffentlich Rechenschaft zu geben, woher wir kommen und was wir selbst als das uns anvertraute Pfund erkennen. Die kleine Schrift gibt auch Antworten auf mancherlei Fragen und Bedenken, die uns bekannt geworden sind. Wir möchten darum wünschen, daß alle Leser unserer Jahresbriefe dieses Heft in der Hand haben, um selbst eine genaue und zutreffende Vorstellung von unserer ganzen Arbeit zu gewinnen, und daß sie es fleißig benützen, um auch andern einen ersten Eindruck von unserem Kampf und Dienst für die Kirche zu vermitteln.

Schweigen
LeerAus einem Brief: „Sie halten eine feste Zucht des Schweigens für nötig und heilsam. Ja aber, was ist Schweigen? Ich bin viel allein, bei den Mahlzeiten, an allen Abenden; immer! Was nützt dieses Schweigen, wenn man innerlich nicht schweigen kann?... Ich bin so viel wach in der Nacht. Um mich diese wundervolle Stille, aber auch da ist es unmöglich, zur inneren Ruhe zu kommen. . .” Über diese Frage kann man nicht mit ein paar gut gemeinten Worten hinweggehen. Wer hat denn etwas Wesentliches und Hilfreiches dazu zu sagen?

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LeerAns einem Brief: „Dieses unheimliche Hetzen und Jagen, das einen gar nicht selten so müde macht, daß der Bruder Innerlich überhaupt nicht mehr zu seinem Recht kommt, weil sein Zwilling Äußerlich eben das Feld des Lebens beherrscht. . . Ich kann mir nicht helfen: am Rande meines Weges werden die Fragen immer größer, lauter, unüberhörbarer: ist das Leben?”

LeerIst nicht ein solcher erschütternder Notschrei eine Bußpredigt zum Beginn der Fastenzeit? Gewiß werden Fragen des Fastens im engeren Sinn auch heute ihre wichtige Bedeutung haben; aber die eigentliche Frage des Fastens, das heißt einer wirklichen Ordnung und Zucht unserer ganzen Lebensführung entbrennt heute an diesem einen Punkt: wie überwinden wir diese greuliche gottlose Hetze, von der wir in der Bußlitanei bekennen, daß sie uns das Leben stiehlt? Wie gewinnen wir einen heilsamen Rhythmus von Arbeit und Ruhe, von Anspannung und Entspannung, wie retten wir die Nacht vor dem Tag, der in seinem Eroberungsdrang sich selber zerstört? Es gibt gewiß kein Allheilmittel für diese schreckliche Erkrankung unserer Zeit, und wir werden alle unser Teil an dieser Not auch weiter tragen müssen. Aber ich glaube längst nicht mehr, daß man gegen diese Lebenszerstörung überhaupt kämpfen kann, ohne eine feste Ordnung des Gebetes und der Andacht, ohne daß wir uns einfach, um jeden Preis, die Zeit nehmen, regelmäßig im Kultus der Kirche zu leben und einzutauchen in jene Freiheit der Kinder Gottes, in der wir frei werden auch von der ewig drängenden Zeit. Es ist eine erstaunliche Erfahrung, wieviel Zeit man auf einmal hat, wenn man sich diese Zeit nicht rauben läßt!

Anm. 1: „Berneuchen, unser Kampf und Dienst für die Kirche”, im Johannes-Stauda-Verlag. Kassel. Einzelpreis 30 Pfg., Mengenpreise wesentlich billiger.

Evangelische Jahresbriefe 1938, S. 66-70

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-05
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