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Ostern
von Wilhelm Stählin

LeerIm Laufe der Kirchengeschichte ist immer wieder der Versuch gemacht worden, von einem einzelnen Punkt her in das Ganze der Bibel einzudringen und eine einzelne Wahrheit als Schlüssel zu gebrauchen, der alle Räume der heiligen Schriften aufschließt. So hat die alte Kirche in der Heiligen Schrift wesentlich die Spuren der unvergänglichen Weisheit, der wahren Philosophie gesucht; spätere Zeiten haben aus der Bibel vor allem eine von Gott gestiftete Ordnung, ein vollkommenes und darum unbedingt verpflichtendes Gesetz herausgelesen. Luther war gewiß, in der paulinischen Botschaft von der rechtfertigenden Gottesgnade den Schlüssel zum Ganzen gefunden zu haben, und er verstand alles, das Alte ebenso wohl wie das Neue Testament, als die Entfaltung dieses einen Wortes von der Gnade Gottes, der uns sein Wohltun zuwendet. - Es hat keinen Sinn, darüber zu streiten, welches nun der rechte Schlüssel sei, der wirklich imstande ist, alle Türen aufzuschließen. Denn solche Wandlungen im Verständnis der Heiligen Schrift sind selbst Form und Ausdruck tieferer Wandlungen im geistlichen Leben der Kirche, und es kann nicht anders sein, als daß jedes Geschlecht wieder durch ein anderes Tor in die heilige Stadt mit ihren tausend Gassen eindringt und dann freilich, je nach der Seite, von der es gekommen, auch sein eigentümliches Bild von Weite und Bau des Ganzen empfängt.

LeerFür uns ist  O s t e r n  das Tor, das sich uns öffnet und uns Einlaß in alle Räume gewährt. Je näher uns der Tod rückt und je furchtbarer die Ernte ist, die er rings um uns hält, je dringlicher uns die Frage bewegt, welche Hoffnung wir hegen dürfen für all die vielen, deren Leben scheinbar so jäh und unvollendet abgebrochen wird, desto ernsthafter drückt die Frage nach Tod und Leben in die Mitte unseres religiösen Denkens, und fast staunend entdecken wir, wie sehr sich eben diese Frage durch das Ganze der Heiligen Schrift hindurchzieht.

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Leer1. Denn der „wunderliche Krieg, da Tod und Leben ringen”, ist  d a s  Thema der Heiligen Schrift. Was sie davon sagt, ist durch drei Merkmale geprägt. Allen voran steht die Unentrinnbarkeit des Todes. Wir können vergessen, daß wir sterben müssen; wir können uns weigern, unsren Tod zu bedenken; wir haben die Möglichkeit, der Drohung des vor der Tür unseres Hauses lauernden Todes mit frivolem Leichtsinn zu begegnen; mit all dem wird das Todesschicksal selbst nicht abgewendet. Dem Tod ist Macht gegeben über alle Menschen. Aber nirgends wird diese Todesmacht als eine natürliche Ordnung anerkannt, die zu dem Menschen gehört, wie die Schwerkraft zu dem fallenden Stein. Nur ganz am Rande, da das Herz am Sinn des Lebens überhaupt verzagt, weil doch „alles ganz eitel ist”, taucht der grauenhafte Gedanke auf, der Tod bedeute für den Menschen das gleiche natürliche und notwendige Ende wie für andere Kreaturen, für Blume und Tier (Pred. 3, 19). Nein, der Tod ist das Herrschaftszeichen der widergöttlichen Macht, unter die der Mensch geknechtet ist; das Verhängnis, das auf dem Menschen lastet als der Fluch der Selbstherrlichkeit, die sich aus der Unschuld des ursprünglichen Gehorsams gelöst hat. Als Lazarus gestorben war, „ergrimmte” Jesus und „erregte sich”, nicht über das, was ihm selbst, sondern über das, was dem Menschen als solchen angetan war; er ergrimmte über die Macht des bösen Feindes, die im Tod ihren sichtbarsten und erschreckendsten Ausdruck findet. Der Glaube der Bibel kann und will sich über den Tod nicht beruhigen; wohl muß man den Tod bedenken, um wahrhaft weise zu werden; aber es ist nicht „fromm”, an den Tod zu glauben als an ein letztes und endgültiges Wort, mit dem ein Menschenleben ausgetilgt wird; fromm ist allein der Glaube an Gott, der seine Ehre und Macht mit keinem Feinde, auch nicht mit dem Tod teilt. Darum steigt mit der Gotteserkenntnis zugleich riesenhaft auf die ungeheuerste Frage, die Frage aller Fragen, nach der Überwindung des Todes. Diese alles verzehrende Unruhe kommt erst zur Ruhe in der Gewißheit, daß dieser Kampf um das Leben des Menschen durchgefochten und entschieden ist: der Tod ist verschlungen in den Sieg. Zu dem Bilde der neuen Welt, auf die alle Linien hinführen, gehört auch dies: „Der Tod wird nicht mehr sein” (Offenbarung 21, 4). Nicht wie der Lebenshunger und das leidvolle Leben ausgelöscht, sondern wie der Tod überwunden und das unvergängliche Leben gewonnen wird, ist Thema und Ziel der heiligen Geschichte.

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Leer2. Alle Linien laufen zusammen in der Gestalt Jesu; das Kreuz scheidet und ordnet mit seinen nach allen Seiten gestreckten Armen wirklich den ganzen Raum. Man geht an dem Wesentlichen vorbei, solange man das Leben oder den Tod Jesu als ein (aus irgendeinem Grunde bemerkenswertes) Einzelschicksal isoliert; man muß lernen, „Golgatha” als den Brennpunkt des ganzen Kampfes zwischen Tod und Leben, als die Entscheidungsschlacht, die um die Rettung des Menschen durchgefochten wird, zu sehen. Auf alten Darstellungen liegt unter dem Kreuz der Schädel Adams. Das will besagen: hier ist noch einmal wie in „Adam” die ganze Menschheit zusammengefaßt; was hier geschieht, das wächst empor aus dem Fluch, der „von Adam her” über dem Menschengeschlecht lastet, und es wächst zugleich über dieses Todesverhängnis hinaus.

LeerEine jede Macht kann nur auf ihrem eigenen Boden besiegt werden. Da das menschliche Ich die Einbruchstelle und Behausung der Dämonen ist, so kann die dämonische Macht nur von dem menschgewordenen Gott, von Gott der ein menschliches Ich geworden ist, angegriffen, gebrochen und entmächtigt werden. Eben darum kann, nach dem tiefsinnigen Wort des Hebräerbriefes (2, 14), der Fürst des Todes nur durch den Tod selbst, in seinem eigenen Herrschaftsbereich seiner Macht beraubt werden. Das aufregend Widersinnige, das dem Tod anhaftet, ist nirgends widersinniger und aufregender als in dem Tod Jesu; daß der „Fürst des Lebens” getötet wird, ist nicht tragisches Geschick, heroischer Untergang oder dergleichen; sondern hier greift der Zusammenhang zwischen dem Tod und der Schuld der Welt jedem, der nicht verstockt oder verblendet ist, ans Herz. Hier wird unser aller Schuld und Fluch und Hoffnung, unser aller Sterben und Leben ausgetragen, durchlitten und durchgefochten.

LeerDieser Tod wird nicht widerrufen; der Herr kehrt nicht „zurück” in das Leben diesseits der Todesgrenze, sondern er ist hindurchgebrochen und er „erscheint”, er läßt sich sehen als die „verklärte” Gestalt, die doch in diese Todeswelt hineinragt und hineinwirkt. (Anm. 1) „Ich war tot, und  s i e h e , ich bin lebendig ...” (Offenb. 1, 18). „Überwindung des Todes” kann also nicht heißen,. daß dem Menschen, so wie er ist, der leibliche Tod erspart würde, sondern daß hinter dem Tod und durch den Tod hindurch eine neue, andere, höhere Lebensmöglichkeit sichtbar wird: der Abgrund wird zu einem dunklen Tor, durch das man hindurchschreiten darf, und das Ende birgt sich in einen neuen Beginn. Was jeder Morgen, der sich aus der Nacht erhebt, uns verheißt, ist erfüllt: Christus ist wahrhaftig „auferstanden”.

LeerDie verschlossene Tür ist einfürallemal aufgestoßen, durch den, „der auftut und niemand schließt zu” (Offenb. 3, 7). Der Begriff der „historischen Tatsache” (der ja immer das einzelne Ereignis im zeitlichen Abstand von uns meint) reicht nicht hin, zu beschreiben, was hier geschehen ist; denn was hier geschehen ist, ist an der ganzen Menschheit geschehen: in dem Äonenkampf zwischen Tod und Leben ist der Tod besiegt und dem Leben die Bahn gebrochen. Darum ist Ostern  d a s  Fest der christlichen Kirche und die Mitte der Heiligen Schrift und aller Erdengeschichte überhaupt.

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Leer3. Die uns allen so vertrauten Darstellungen der Höllenfahrt Christi stellen (unter anderem) geheimnisvoll dar, daß auf den Auferstandenen die Geschlechter, die vor ihm gelebt haben und gestorben sind, gewartet haben. Alle Linien der vorchristlichen Menschheitsentwicklung laufen auf dieses Ziel hin. Zwar die kühnste aller Hoffnungen, die Auferstehung der Toten, ist nicht sofort im Gesichtskreis der vorchristlichen Menschheit. Aber eine dreifache Erkenntnis bereitet im alten Bund die Osterbotschaft vor, und auch die außerbiblische „heidnische” Welt ist von diesen Ahnungen durchzogen. Die „heilige” Geschichte ereignet sich nicht als die Entfaltung natürlicher Möglichkeiten und Kräfte, sondern als die Tat Gottes, der da am Werk ist, wo unsere Möglichkeiten erschöpft sind. Er tut immer das Unwahrscheinliche, Unausdenkliche und Unmögliche. Der Sohn der Verheißung wird wider alle vernünftige Erwartung verheißen und geboren, und aus dem toten Felsen entspringt das Wasser, mit dem das Volk Gottes in der Wüste erquickt wird. Eben das ist die Ehre, die der Glaubende Gott erweist, daß er ihm das Unmögliche zutraut und da, wo nur das Ende zu sehen ist, den neuen Beginn erwartet. - Darum ist das eigentliche Werk Gottes die Heilung der Kranken und die Rettung der Verlorenen. Da Gott einmal den Menschen „gewagt” hat, der sich ihm widersetzen kann, ist sein Herz mehr auf die Wiederbringung als auf die Erhaltung seines liebsten Geschöpfs gerichtet. Die Heimkehr ist mehr als die Heimat, die Genesung wertvoller als die Gesundheit, die Rettung beglückender als die Sicherheit, darum auch die Begnadung mehr als Gerechtigkeit und Tugend. Die Zukunftsschau der Propheten widerspricht leidenschaftlich der unbedrohten Sicherheit und verheißt vielmehr durch das Todesgericht hindurch den „heiligen Rest”, an dem Gott sich verherrlichen will. Aus dem Bauch des Fisches, aus der Tiefe des Todes holt Gott Jona hervor, damit er ihm diene; der Verachtete, Preisgegebene, Geschmähte und Ausgestoßene ist der „Knecht Gottes”, der Seine Ordnung unter den Völkern aufrichtet. Das Erbarmen Gottes gleicht der rettenden Arche, die seine Auserwählten hinwegträgt über die todbringenden Wasser; und der „Sohn der Götter” ist bei den Getreuen im glühenden Ofen (Dan. 3, 25) - Durch diese Todestiefe kann freilich - das ist das Dritte - keiner ungewandelt hindurchgehen; was an ihm selber geschieht, ist größer und wunderbarer als die Rettung aus äußerer Gefahr. Wer auf diese Bahn gerissen ist, von dem gilt wirklich das Wort, daß noch nicht erschienen ist, was wir sein werden. Es wird aus der Tiefe ein Anderer emportauchen, als der in diese Tiefe geworfen wurde. Um diese Wandlung des Menschen, die ihn fähig macht, die Todesgrenze zu überschreiten, kreisen die Mysterien der alten Welt. Niemand kann den Weg betreten, der sich nicht selbst hineingibt in die Schrecken des Todes, und mancher versinkt in der dunklen Flut. Wer aber ans andere Ufer gekommen ist, der betritt als ein neuer Mensch das neue Land.

LeerEs sieht bisweilen so aus, als ob der leibliche Tod doch eine unüberschreitbare Grenze wäre; die Frommen des alten Bundes halten es für nötig, Gott zu bedrängen, daß er doch seine Macht beweise, ehe es zu spät ist. Umso schwerer wiegt es, daß in der Auferstehung diese letzte Grenze übersprungen und diese letzte Angst von dem Menschenherzen genommen ist. Der letzte Feind ist zuschanden geworden. Nun erst ist jene dreifache Linie wirklich zu Ende gezogen. „Bei Gott ist  k e i n  Ding unmöglich.” Die Auferstehung ist mehr als die Unsterblichkeit, und erst durch den Tod hindurch wird der Mensch zu seinem wahren Bilde verklärt.

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Leer4. Darum gehen nun auch alle Linien die den Heilspfad des Menschen beschreiben, von Ostern aus, und sie machen nur sichtbar, was sich Ostern in der Menschheit und im Leben des Einzelnen auswirken will. Alle Stationen dieses Weges sind nur wie die Stunden des Tages, der am Ostermorgen heraufstieg. Es gibt nichts, keinen Satz und keinen Gedanken im Neuen Testament, in irgendeiner Dogmatik, Ethik, Liturgik oder Kirchenkunde, den man recht begreifen könnte ohne Ostern!

LeerAuch hier muß ein Dreifaches gesehen und bedacht werden. Ohne Zweifel haben die „Mysterien” des Christentums - das Neue Testament kennt ja noch nicht den theologischen Begriff des Sakramentes - keine andere Bedeutung als die configuratio cum Christo: Der Mensch soll Christus „gleichförmig” werden durch die Teilnahme an seinem Sterben und seiner Auferstehung. Die Taufe ist der symbolische Vollzug des Begräbnisses, und durch diesen symbolischen Vollzug erlangt der Christ Anteil an dem neuen Leben des auferstandenen Christus: „ ...also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln.” Auch das Sakrament des Altars wäre nicht „Eucharistie”, das heißt Mahl der Danksagung, wenn darin nur das fromme Gemüt an das Leiden und Sterben des Herrn erinnert und nicht durch die reale Gegenwart dieses Opfers den Gläubigen wirklich das Brot des ewigen Lebens und der Kelch des immerwährenden Heils zuteil würde. Durch die Teilnahme an den Sakramenten werden wir auf einen Weg gestellt (und empfangen Wegzehrung auf diesem Wege), der innerhalb dieses Erdenlebens noch nicht zu seinem Ziele kommt. Denn das Ziel ist die Teilnahme an dem himmlischen Leben Gottes, Teilhaber an dem Leben eines neuen Äon: expecto resurrectionem mortuorum et vitam venturi saeculi. Gerade angesichts der grausigen Todesernte dieses Krieges empfangen viele Herzen eine ihnen selbst vielleicht ganz neue Gewißheit dieser jenseitigen Welt, in der sie mit den Lieben, die von ihrer Seite gerissen sind, verbunden sind. Wir gehen nicht in die Nacht, sondern in den Tag und schauen in das Licht der aufgehenden Sonne.

LeerAuf diesem Wege geschieht nun alles das, was wir mit dem Wort „Heiligung” meinen. Man muß freilich dieses Wort zunächst von allen Gedanken an moralische Trefflichkeit und willensmäßige Anstrengung lösen, um zu erkennen, wie sehr die Heiligung des Lebens mit Ostern zusammenhängt. Es geht ja um nichts anderes als darum, daß das Leben der zukünftigen Welt sich unseres irdischen Lebens in allen seinen Bereichen bemächtigt und sich gegenüber allen selbstischen und ich-verkrampften Wesen durchsetzt. Wir können nicht ohne ein immer neues Sterben geheiligt werden. Hier wird nun der Tod ganz hereingenommen ins Leben; nicht mehr als ein Naturprozeß oder als ein Verhängnis, dem wir in heroischer Haltung begegnen, sondern als die Tat der vollkommenen Selbsthingabe an Gott, in der unser gott-widerstrebendes Ich verzehrt und verschlungen und gewandelt wird von dem Feuer der göttlichen Liebe. Wer diesen Tod gestorben ist und in ihm das wahre Leben der Liebe gewonnen hat, dem kann der leibliche Tod nichts mehr anhaben. „Wir sind vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.”

LeerDarum ist Heiligung nichts anderes als das Fortschreiten auf dem Wege zwischen Taufe und Auferstehung der Toten. Sie erschließt sich der Kraft, durch die der Vater den Sohn auferweckt hat, und streckt sich aus nach unserer eigenen Auferstehung. Ostern ist wirklich das Thema der ganzen Heiligen Schrift und das Geheimnis des christlichen Lebens. Und es ist nur dies vonnöten, daß wir uns mit diesem Schlüssel alle Räume der Erkenntnis und des Lebens aufschließen lassen und die Räume betreten und durchschreiten, die uns aufgetan werden.
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1: Vergleiche dazu den Aufsatz über die Auferstehungsgeschichten im Osterbrief des vorigen Jahres

Evangelische Jahresbriefe 1942, S. 26-30

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-14
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