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Der Mensch, der das „Vaterunser” betet
3.Die vierte Bitte
von Wilhelm Stählin

1. Die Anrede
2. Die drei ersten Bitten
4. Die drei letzten Bitten
5. Der Beschluß

LeerIn der Mitte des Vater-unsers steht die Bitte um das tägliche Brot. Es ist sprachlich nicht mit völliger Sicherheit auszumachen, wie die Worte ursprünglich gelautet haben, und welches ihr genauer Sinn ist. Mancher Ausleger deutet die Worte so: „Gib uns heute das Brot für morgen”; andere erklären das fragliche Wort als das, was zur Existenz gehört: „Gib uns das Brot, dessen wir bedürfen.” Doch berührt diese Verschiedenheit der Meinungen das Entscheidende nicht, daß in dieser Bitte vom „täglichen Brot” geredet und um dieses tägliche Brot gebeten wird.

LeerManche Väter der alten Kirche, vielleicht sogar die meisten, waren der Meinung, es könne in dem gebet des Herrn, in dem um die Heiligung des Namens Gottes, um das Kommen des himmlischen reiches und um die Verwirklichung des göttlichen Willens gebeten wird, nicht sozusagen in einem Atem von einer so irdischen Sache wie der leiblichen Nahrung die Rede sein, und sie haben deswegen das Brot als die sakramentale Speise gedeutet: „Laß uns nicht fehlen das Brot des Lebens, Jesum Christum!” Doch erkennen wir in diesem Verständnis der 4. Bitte jene Unterschätzung und Verachtung alles irdischen und leiblichen Lebens, die notwendig aus der Aufspaltung des Lebensganzen in eine sinnliche und eine geistige Sphäre folgt. Wenn einmal der Mensch als ein rein geistiges Wesen verstanden wird, das nur für eine kurze Zeit in das Gefängnis des Körpers gefangen und an die Notwendigkeiten einer physischen Existenz gebunden ist, dann ist in der Tat die Bitte um das Brot, mit dem wir dieses unser leibliches Dasein fristen, allzu gering, als daß sie in dem entscheidenden Gebet der Gotteskindschaft Recht und Raum haben dürfte; so wie Meister Eckehart gelegentlich gesagt hat, er wolle doch Gott nicht um eine Bohne bitten, wenn er unvergleichlich viel größere Gaben erlangen könnte.

LeerAber diese ganze Denkweise ist nicht in der Bibel, nicht im Evangelium beheimatet, sondern sie ist der Einbruch eines aus ganz anderem Raum, nämlich aus der späten Antike, stammenden Denkens in die Welt des christlichen Glaubens, ein Fremdkörper, der freilich nur allzu zahlreiche und allzu deutliche Spuren in der Gedankenwelt der christlichen Kirche hinterlassen hat. Es ist genau umgekehrt ein wesentlicher und entscheidend wichtiger Zug in dem biblischen Menschenbild, daß der Herr seine Jünger angeleitet hat, mitten zwischen der Bitte um das Kommen des himmlischen reiches und der andern Bitte um Vergebung der Schuld um das tägliche Brot zu bitten. Ja, wenn wir mit Recht angeleitet werden, überall im Evangelium die Struktur eines Ganzen, Ordnung und Reihenfolge der einzelnen Stücke sorgfältig zu beachten, dann steht die Bitte um das tägliche Brot nicht zufällig irgendwo, sondern an einem besonders bemerkenswerten Punkt, zwar eingerahmt und eingeklammert von beiden Seiten, aber eben doch genau in der Mitte. Neuere Forschungen haben festgestellt, wie in der Offenbarung St. Johannis durch das eigentümliche Stilmittel der Umrahmung und „Einklammerung” das entscheidend Wichtige zugleich verborgen und hervorgehoben wird; und es verlohnt sich, den Spuren eben dieses Stils auch an andern Orten der heiligen Schrift nachzugehen. Wenn es erlaubt und richtig ist, diese Betrachtungsweise auch auf das Vater-unser anzuwenden, dann hat darin die Bitte um das tägliche Brot eben dadurch, daß sie genau in der Mitte steht, ihr besonderes Gewicht.

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LeerWas bedeutet das? Der Mensch, der das Vater-unser betet, ist nicht ein überirdisches Wesen, das nur noch geistige oder geistliche Anlagen hat und sich schämen müßte (oder sich wenigstens geniert), auch noch irdische und leibliche Bedürfnisse zu haben; sondern es ist genau der Mensch, der als leibhaftes Wesen auf dieser Erde lebt, diesem irdischen Raum und seinen Gesetzen verhaftet, der Speise bedürftig und angewiesen auf die Aufbaustoffe, die ihm aus der fruchttragenden Erde zuwachsen. Mag die Pflanze noch so köstliche Blüten dem Licht und der Sonne entgegenstrecken, so muß doch all ihre Schönheit welken und keine Blüte kann reifen zur Frucht, wenn die Pflanze nicht durch ihre Wurzel mit dem „dunklen Schoß der Erde” verbunden ist; ebenso verlieren sich alle Höhenflüge des Geistes in jene luftleeren Räume, aus denen man nur noch abstürzen kann, wenn der über alle Wirklichkeit hinausfliegende Geist den Boden unter den Füßen verliert und das Brot verachtet, ohne das die leibliche Grundlage alles seelischen und geistigen Lebens nicht bestehen kann. Darum senkt auch das Gebet des Herrn in der Mitte seines Weges seine Wurzel in den Grund und Boden alles leibhaften Lebens; weit entfernt, in einem Höhenflug frommer Gedanken diese leibhafte Wirklichkeit weit hinter sich oder weit unter sich zu lassen, stellt sich vielmehr der Mensch, indem er das Vater-unser betet, in nüchternem Wirklichkeitssinn genau an den Ort, an dem er allein stehen kann.

LeerNicht zufällig redet diese Bitte nun gerade vom Brot. Luther sagt in seiner Auslegung, täglich Bot „heiße” alles das, was zur Leibes-nahrung und -notdurft gehört, und in jener wortreichen Aufzählung, die wir alle noch mehr oder weniger deutlich im Ohr haben, erinnert er uns daran, was alles in der Tat zu den notwendigen und schwer entbehrlichen Voraussetzungen oder doch Hilfen eines jeden menschlichen Lebens gehört. Daß manches von dem, was er beispielhaft nennt, das Gepräge einer heute vergangenen Wirtschaftsordnung trägt, und daß wir heute manches anders sagen müßten, ändert doch nichts daran, daß die rein physische Nahrung, die den Menschen vor dem Hungertod bewahrt, nicht ausreicht, um ein wahrhaft menschliches und menschenwürdiges Dasein zu gewähren. Niemand von uns kann vergessen, wie elend und erbarmungswürdig ein Mensch sein kann, wenn ihm „fromme und treue Oberherren, gut Regiment, Friede, Gesundheit, Zucht Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen” fehlen; indem wir sagen, dieses alles und vielleicht noch manches andere sei so notwendig „wie das tägliche Brot”, geben wir Luther recht, der den Umkreis dessen, was alles tägliches Brot „heißt”, so weit gespannt hat.

LeerAber doch kann eben nichts andres als das Brot stellvertretend für dies alles stehen, als Inbegriff aller „Notdurft und Nahrung des Leibes und Lebens”. Denn im Brot (freilich nicht minder in der Frucht des Weinstocks oder eines fruchttragenden Baumes) verbinden sich in einer geheimnisvollen Weise die Kräfte, die Keim und Ähre aus der Erde an sich ziehen, mit den Kräften, die dem Pflanzenwuchs von oben her, aus der Luft, aus Licht und Sonne, zuströmen. Nur darum ist das Brot in einer so unvergleichlichen Weise mit Schicksal und Wesen des Menschen, sowohl des einzelnen Menschen wie des ganzen Menschengeschlechts, verbunden, und nur darum kann es zum Gleichnis werden für den, der sich selbst das wahre Brot genannt hat. Indem wir das Brot empfangen und zu uns nehmen, verbinden wir uns mit den Kräften des ganzen Kosmos , die in Saat und Ernte zusammenwirken, damit das Brot zur Nahrung für uns werde. Darum ist auch alle hohe Gesittung in der Menschheitsgeschichte an den Ackerbau gebunden, und es ist also mehr als eine geschichtliche „Zufälligkeit”, daß die Menschwerdung Gottes als das entscheidende Ereignis dieser Geschichte sich zeitlich und räumlich in einem Umkreis vollzog, darin die Menschen den Acker bebauten und das Brot als tägliche Nahrung gebrauchten.

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Leer„Wir bitten in diesem Gebet, daß es uns lasse erkennen und mit Danksagung empfangen unser täglich Brot” (Anm. 1). „Das tägliche Brot erkennen” heißt es erkennen und anerkennen als das, was es ist. Es ist nämlich in einer besonders eindringlichen Weise zugleich der Ertrag menschlichen Fleißes und jenseits aller menschlichen Bemühungen die Gabe des Schöpfers an seine Geschöpfe. Wir sind wahrscheinlich mehr als irgendein früheres Geschlecht in Gefahr, das Produkt menschlicher Arbeit und die Voraussetzung aller unserer Arbeit in den schöpfungsmäßigen Urgegebenheiten (den „Ur-Sachen”), also Technik und Kreatur, zu verwechseln. Die Nürnberger Schuljungens, die über die Herkunft des Brotes schlechterdings nichts anderes zu sagen wußten, als daß es aus der „Brotfabrik” komme, sind in einer unheimlichen Weise typisch für diese Unfähigkeit, das Nicht-gemachte, schlechthin Gegebene, das nicht vom Menschen, sondern von Gott Hervorgebrachte, mit einem Wort gesagt: das Geschaffene überhaupt als solches wahrzunehmen und zu achten. Der erschütternde Satz, den heute die Schulkinder in dem China Mao-Tse-tungs lernen, „Betet nicht den Himmel an und nicht die Erde; betet nur die Macht der Arbeit des Volkes an” (Anm. 2), ist der echte Ausdruck für diesen Zustand des Menschen, in dem er das Werk Gottes, das er nur zerstören, aber in keiner Weise hervorbringen kann, hinter der imponierenden Fassade seines eigenen Werkes nicht mehr wahrzunehmen vermag.

LeerIndem der Mensch das „Vater unser” und in dessen Mitte die 4. Bitte betet, erkennt er an, daß in seinem täglichen Brot, so gewiß er es „erarbeitet” und in diesem Sinne „verdient” hat, etwas zu ihm kommt, was er in keinem Sinn machen oder beanspruchen, sondern nur ehrfürchtig und dankbar entgegennehmen kann. Mag das Tischgebet in unzähligen Fällen zu einer leeren und gedankenlos geübten Sitte geworden sein, so ist es doch recht verstanden die Grenzlinie, an der zwei grundverschiedene und in entgegengesetzter Richtung verlaufende Wege im Selbstverständnis des Menschen sich scheiden. Wohl verstanden: Es geht nicht in erster Linie um die eigenen und persönlichen Sorgen um das tägliche Brot, sondern u m die Anerkennung dessen, daß in den Früchten der Erde und allem, was unser leibliches Leben fristet, eine kreatürliche Gabe des Schöpfers zu uns kommt, und daß wir uns mit jedem Bissen Brot, den wir essen, nicht nur mit den Kräften der Erde und der atmosphärischen Substanzen, sondern mit der uns Menschen beschenkenden Güte der reinen Schöpfermacht Gottes verbinden. Es ist nicht auszudenken, welche Tragweite diese Erkenntnis und Anerkenntnis hat, sobald sie über den Bereich einer frommen, aber im Grunde sinnlosen und belanglosen Sitte hinaus in die Sphäre des denkenden Bewußtseins erhoben wird und dem Menschen sozusagen in Fleisch und Blut seines Menschseins eingeht.

LeerDamit wird all die Arbeit, die an das täglich Brot gewendet wird, nicht entwertet, sondern erst in das rechte Licht gerückt. Sie ist, recht verstanden, nicht nur die Fron der harten Notwendigkeiten, der bittere Zwang, unter dem allein der arme, geplagte Mensch sein physisches Dasein fristen kann, sondern sie ist erhoben zu der Würde eines echten Dienstes an eine Werk Gottes, weil Gott - nicht erst unter dem Fluch des Sündenfalls, sondern in der Paradiesesordnung, also mit dem Menschen als Kreatur ursprünglich verbunden - die Welt so geschaffen hat, daß sie der menschlichen Arbeit, der menschlichen Pflege und Hilfe bedarf, um all das hervorzubringen, was der Schöpfer an Anlagen und Möglichkeiten in sie gelegt hat. Darum gehört die Arbeit des Bauern zu jenen Formen der menschlichen Arbeit, auf denen - bei aller Mühsal und Sorge - noch etwas von dem Glanz einer ursprünglichen, ja göttlichen Würde liegt, während bei anderen Zweigen der menschlichen Arbeit jene ursprüngliche Würde fast gänzlich überdeckt ist durch die Spuren des zerstörerischen Fluches, der auf der Arbeit des Menschen lastet, seit er sein wollte wie Gott.

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LeerZugleich aber erinnert das „uns” in der vierten Bitte ebenso deutlich daran, daß auch in diesem Zusammenhang mit dem Kosmos und seinen Schöpfungskräften und in diesem Verständnis der irdischen Arbeit und Mühe niemals der Einzelne für sich allein, sondern immer zugleich in der echten Not- und Schicksalsgemeinschaft mit seinen menschlichen Brüdern steht. Wer egoistisch nur an sein eigenes tägliches Brot, an den für ihn gedeckten Tisch denkt, kann diese Bitte des Vater-unsers nicht in ihrem eigentlichen Sinn beten. So wie zu einer wahren Tischgemeinschaft dieses gehört, daß wir aufeinander schauen, daß einer den andern bedient und in wechselseitiger Fürsorge das Mahl zu einem täglichen Bekenntnis der Liebe und Verbundenheit wird, so ist auch im großen die rechte Verteilung dessen, was diese Erde an Urstoffen für die menschliche Nahrung und die menschliche Arbeit hervorbringt, der Prüfstein dafür, in welchem Maß wir miteinander und füreinander leben. Keine „soziale” oder „sozialistische” Ideologie vermag etwas daran zu ändern, daß das tägliche Brot, sobald es von den Menschen nicht mehr „erkannt” wird als das, was es ist, unweigerlich zum Ausgangsprodukt und Anlaß unendlicher Kämpfe wird. Es ist eine wirklichkeitsfremde Utopie, zu meinen, man könne den „Frieden” der Welt durch eine irgendwie ausgedachte gerechte Verteilung der Güter dieser Erde herstellen und erhalten, solange jenes „wir” nicht in seinem tiefsten Sinn verstanden und anerkannt wird, daß nämlich wir Menschen untereinander ebenso durch eine gemeinsame Beziehung auf den Vater in den Himmeln verbunden sind, wie wir mit den Kreaturen durch die gemeinsame Beziehung auf den Schöpfer verbunden sind.

LeerDer Mensch, der das Vater-unser betet und begreift, warum in dessen Mitte die Bitte um das tägliche Brot ihren Ort hat, ist darum der Mensch, der sich ebenso inmitten der geschaffenen Welt wie inmitten seiner Mitmenschen an den Ort stellt, der ihm von seinem Schöpfer angewiesen und zugemessen ist.


Anmerkungen

Anm. 1: So der genaue, sehr sorgfältig erwogene Wortlaut in dem neuen Einheitskatechismus der lutherischen Kirche
Anm. 2: Barnabas, Christliche Verkündigung im kommunistischen China, München 1951, S. 30

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 81-85

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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