Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1953
Jahrgänge
Autoren
Suchen

Die Sprache von Neu-Babylon
von Wilhelm Stählin

LeerIm zweiten Heft unserer Zeitschrift hat Ilse Schönhoff-Riem uns einige Proben der „Sprache von Neu-Kanaan” vor Augen - oder vielmehr vor Ohren - gestellt, jener Sprache, die im Kreis der Theologen mit solchem Eifer gehandhabt wird. Der Spott wird nichts nützen; denn wer sich erst einmal an diesen Jargon gewöhnt hat, der merkt gar nicht mehr, was das für eine komische und lächerliche Redeweise ist, der er damit verfallen ist. Ich habe aber den Eindruck, daß manche Leute auf der Flucht vor Kanaan nach Babylon geraten. Es ist ja das große Modegeschrei, daß die Kirche aus dem Ghetto ihrer besonderen Sprache (die außerhalb der engsten Kreise niemand versteht und niemand erträgt) herauskommen und „weltlich” reden müsse, um von den Kindern der Welt überhaupt gehört und verstanden zu werden. Das sieht dann so aus, daß man die besonders feierlich klingende Redeweise des theologischen Dialekts meidet und sich als moderner Mensch, als einer, der von dem Geist der Zeit ergriffen ist, gebärdet, indem man eifrig alle Sprachdummheiten mitmacht, mit denen „man” heute unsere gute Sprache zu verhunzen pflegt.

LeerIn Babylon wird der Turm gebaut, der die natürlich gewachsenen Bäume übertreffen soll, die den Mangel haben, nicht in den Himmel zu wachsen. Für diesen Turm reicht das Baumaterial nicht aus, das uns die geschaffene Natur darbietet; darum muß die mangelhafte Struktur der mütterlichen Erde durch künstliches „Material” ergänzt und „angereichert” werden (wobei sich Materie und Material etwa verhalten wie die Mutter zu der Stiefmutter im Märchen). Das Prinzip ist immer das gleiche wie bei der Herstellung von Beton oder beim Tonfilm: Die gewachsene Einheit wird zerschlagen, und die Teilstückchen darnach mechanisch neu zusammengepreßt zu einem Gemenge, das vorgibt, eine Einheit zu sein, das aber in keiner Weise das geheimnisvolle Gefüge des gewachsenen Ganzen zu ersetzen vermag. Genau das geschieht in der Sprache von Babylon, deren man sich als Baumaterial bedienen muß, um den modernen geistigen Turm von Babylon zu errichten.

Linie

LeerEs fängt damit an, daß man bei einem Namen oder Fachausdruck, der aus mehreren V/orten zusammengesetzt ist, von jedem Wort-Stein den Anfangsbuchstaben wie eine Kante abschlägt und aus diesen weggeschlagenen Bruchstücken ein Wortungeheuer zusammenbackt, das zwar keine Gestalt und keinen Sinn hat, aber immerhin als Geheim-Chiffre verwendet werden kann. Als ein Amerikaner in Shanghai nach dem Gebäude der Young Men Christian Association fragte, wußte ihm niemand zu helfen; als er verzweifelt schließlich nach „Ymka” fragte, bekam er sofort Bescheid. Wir sind darin, längst vor der heutigen politischen Welt-Konstellation, die gelehrigen Schüler der Amerikaner geworden, die mit dieser Abkürzungssucht den Verfall der englischen Sprache „unter Beweis stellen” und beschleunigen:

LeerWir reden, ohne schamrot zu werden, von der Ekid, von der Velk, von der Bekah und vom Esbeh (was je nach der Gesprächslage Schwarzburgbund oder Sonntagsblatt heißen kann); wahrscheinlich demnächst auch von Mädi und von Bibei (was zweifellos schneller auszusprechen ist als „Männerdienst” und „Bildbeilage”). Schon geht man in einer bestimmten Stadt nach Ulf in die Kirche, vielleicht auch weil dem Protestanten „Unser iieben Frauen” unsympathisch klingt. In der Landschaft Babylon gibt es auch kein Neues Testament mehr, sondern nur noch ein Ennteh.

LeerBabylon ist ein großes und mächtiges Reich, in dem nicht mehr ein gegliedertes Volk, sondern eine unterschiedslose Masse wohnt; beim Bau des babylonischen Turmes gibt es nicht mehr Stand und Rang, sondern nur noch Sklavendienst, in dem einer aussieht wie der andere. Darum blüht dort eine Sprache, in der die Unterschiede nicht mehr gelten, die der lebendigen Sprache ihr geheimnisvolles Leben und ihre Anmut verleihen. In der Sprache Babylons wird reuelos zusammengesetzt, was man nicht zusammensetzen kann; man bildet Wortungetüme, in denen an Fremdwörter deutsche Endungen angehängt werden, daß es aussieht wie die verschiedenfarbigen Flicken eines Narrenkleides. Die „nachtodliche Existenz” ist eine Spitzenleistung von Babylon; und das Wort „leitmotivisch”, mit dem uns sogar Quatember gelegentlich beglückt hat, ist ein Zeichen dafür, daß auch Leute, die sich eigentlich besser ausdrücken müßten, aus Angst vor Kanaan sich hin und wieder nach Babylon verirren. Vor allem aber ist diese Sprache dadurch geprägt, daß in ihr der Unterschied zwischen Substantiv und Verbum, zwischen dem Gegenstand also und der Tätigkeit oder dem Ereignis, ständig verwischt wird; die Vorliebe für Substantive, die keine echten „Gegenstände”, nicht irgend „etwas” bezeichnen, verrät in einer geheimnisvollen Weise die Erstarrung des ganzen Denkens, das jeden lebendigen Vorgang in einen „Gegenstand” zu verwandeln geneigt ist, so wie das unsere Märchen von den Hexen und bösen Zauberern erzählen.

Linie

LeerDie scheinbaren Substantive auf „ung”, auf „heit” und „keit”, die so tun, als ob da „etwas” wäre, sind in Babylon besonders beliebt. Die Wörter auf „ung” sind das Spatzengesindel in der Vogelwelt der Sprache; statt zu „erscheinen”, tritt irgend ein Symptom in „Erscheinung” (vergeblich sucht das innere Auge den Raum „Erscheinung”, in den jenes Symptom vorsichtig oder polternd hereintritt); und ein neues Heilmittel wird keineswegs angewendet (wie plebejisch langweilig wäre das!), sondern es wird zur Anwendung gebracht. (Ich sehe vor mir den Apotheker-Boten, der mit geräuschvollem Motorrad sein Fläschchen zur „Anwendung” „bringt”.) Vor einem halben Jahrhundert hat Karl Spitteler seinen beiden Helden Prometheus und Epimetheus nachgerühmt, „und waren auch von Herzen feind den Götzen heit und keit”. Diese Feindschaft des Herzens hat sich in eine schwärmerische Liebe zwar nicht des Herzens, aber des Kopfes verwandelt.

LeerBei einem sehr bekannten Theologen finde ich dieser Tage den in klassischem Babylonisch geschriebenen Satz: „Die Frage nach der Hörbarkeit eines Bekenntnisses kann kein letztes Kriterium für seine Erlaubtheit oder Gebotenheit sein”; das würde in der Sprache einer anderen (der Schöpfung näher gelegenen) Landschaft etwa heißen: „Die Frage, ob ein Bekenntnis gehört werden kann, ist kein letzter Maßstab dafür, ob dieses Bekenntnis erlaubt oder sogar geboten ist.” Die Götzen „heit” und „keit” verschlingen die Eigenschaftswörter; die Sippe „ung” bringt Zeitwörter um. Man kann es noch einfacher haben, indem man nämlich schlankweg aus dem Verbum ein Substantiv macht. Der substantivische Gebrauch des Infinitivs ist wirklich eine der abscheulichsten Entartungen der Sprache. Das „In-die-Entscheidung-gestelltsein” des Menschen ist wirklich eine babylonische Getangenschaft - aber nicht nur des armen, in solche Entscheidung gestellten Menschen, sondern vor allem der mißhandelten Sprache. Aber wie oft und wie sehr haben wir alle unter diesem „aus-aller-schöpfungsmäßigen-Ordnung-vertrieben-sein” des armen Fronarbeiters am babylonischen Turm zu leiden! - Es wird noch schlimmer, wenn umgekehrt Vokabeln, die ihrer ganzen Struktur nach keine Tätigkeit, sondern einen (wirklichen oder gedachten) Gegenstand bezeichnen, durch Anhängen einer passenden Vorsilbe und Endung als Tätigkeitswörter verwendet werden; solcher Art sind die Wörter „beanspruchen”, „vereinnahmen” und „beeindrucken”.

LeerIch weiß, daß es gar keinen Zweck hat, diese Zeilen zu schreiben. Vielleicht lesen sie einige Leser mit Schmunzeln; aber es wird niemand, der nun einmal in Babylon lebt, denkt und redet, auswandern aus dieser Gott-verlassenen Landschaft. Er lästert ja vielleicht nur deswegen die Sprache von Alt- oder Neu-Kanaan, um sich in Babylon besser zu Hause fühlen zu können. Aber im Ernst: Verrät nicht die Sprache, die wir sprechen, wie weit wir schon fortgeschritten sind in der Kunst, das Gewachsene zu zerschlagen und aus lauter Trümmern einen überaus häßlichen babylonischen Turm zu errichten? Die Sprache Kanaans wollen wir meiden, aber um Gottes willen die Sprache von Babylon nicht minder!

Quatember 1953, S. 224-226

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
Haftungsausschluss
TOP