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von Wilhelm Stählin |
An erster Stelle dieses Briefes möchte ich zweier Menschen gedenken, die in diesen Monaten ihren Erdenweg vollendet haben, und die in aller Verschiedenheit ihrer menschlichen und geistigen Art etwas Wesentliches für meinen und vieler meiner Freunde Weg bedeutet haben: Der Tod Gertrud Bäumers weckt nicht nur dankbare Erinnerungen an Bilder und Zusammenhänge, die ihre Bücher lebendig gemacht haben, sondern vor allem auch an eine unvergeßliche persönliche Begegnung. Gelegentlich einer Tagung unseres Berneuchener Kreises in Gießmannsdorf in Schlesien waren ein paar von uns zu einer überaus lebhaften Plauderstunde in ihrem schönen Heim, das sie damals dort bewohnte, zu Gast, und am Abend hielt sie uns einen Vortrag über die Michaelsgestalt in der deutschen Kaisergeschichte; ich entsinne mich nicht genau ihres Themas, aber dieses war jedenfalls die „Sache”, die sie uns in plastischen Bildern vor Augen stellte. Danach fragten wir sie, warum sie eigentlich, die sie doch allen gegenwärtigen Bewegungen die Bahn brechen wollte, in ihren Büchern uns immer wieder den Menschen des Mittelalters zu schildern unternommen habe. Ihre Antwort hat sich wohl allen, die Zeugen jenes Gesprächs waren, unauslöschlich eingeprägt. In zwei Dingen, sagte sie dem Sinn nach, sei der mittelalterliche Mensch ein notwendiges und heilsames Korrektiv des heute unter uns herrschenden Typus. Die Menschen des Mittelalters seien die Menschen „des großen Pendelausschlages” gewesen: maßlos in ihrem Lieben und ihrem Hassen, in ihrem Streiten und Morden, in allen Leidenschaften, seien sie auch fähig und willig gewesen, mit gleicher Intensität zu büßen, zu beten und zu opfern; danach sei der Mensch „des kleinen Pendelausschlages” herrschend geworden, der nach keiner Seite, weder zum Bösen noch zum Guten, die Kraft echter glühender Leidenschaft in sich trage, der nur noch ordentlich oder unordentlich sein könne, und Kant habe seinen großen Anteil daran, daß der Protestantismus so überwiegend eine Religion oder vielmehr eine Pflichtethik der bürgerlichen Bravheit geworden sei, und ferner - sie sprach vor allem von Parzival - habe der Mensch des Mittelalters unermüdlich darum gerungen, die Weite der Welt und die Liebe zu ihr mit dem Dienst Gottes zu einer tiefen Einheit zu verbinden, während von der Renaissance her beides auseinandergebrochen sei, der Gott liebende Mensch immer nur mit schlechtem Gewissen die Welt lieb habe, und die übermächtige Liebe zur Welt die Liebe zu den Geheimnissen Gottes habe erkalten lassen. So etwa beschrieb sie uns den mittelalterlichen Menschen, dem ein so großer Teil ihrer literarischen Arbeit gewidmet war: das fast tragisch zu nennende Zeugnis einer doppelten ungestillten Sehnsucht, die ein mit starken Verstandeskräften begabter Mensch der Gegenwart nach einer anderen Zeit der großen Einheit und Intensität des Lebens mit Gott und mit der Welt empfand. Ich habe mir, als ich von seinem Tod erfuhr, sein heute ganz vergessenes „Büchlein Thaumasia” hervorgeholt, das 1924 - gleichzeitig mit meinem ersten „Gottesjahr”-Band - gleichfalls im Greifen-Verlag zu Rudolstadt erschienen ist: „Das sind dreißig Andachten vor den Wundern des Lebens, denen, die gern starren in die heimliche Tiefe hinter den Dingen, und deren Ohr gelüstet nach den Tönen, die durch die Welt wehen, wenn alles ganz still ist bei den einsamen Gedanken zu Mitten der Nacht, da das Herz der lichten Sonne gedenkt, zu trösten die Seele, die sonder Willen in die Welt ist verschlagen worden”. Ich blättere darin und finde wieder alles, was mich vor dreißig Jahren als eine neue Entdeckung beglückte. „Aus Tod und Leben webt sich das geheimnisvolle Widerspiel, das wir Deutschen mit dem tiefsinnigen Wörtlein „Werden” bezeichnen. Dieses Wörtchen bedeutet nicht nur ein Tätigsein, ein Aktiv, auch nicht nur ein Erleiden, ein Passiv, sondern beides, Aktiv und Passiv zugleich; es ist ein Mittleres zwischen beidem, ein „Medium”. Es drückt ein Handeln aus, das sich selbst zum Gegenstand hat, es enthält in sich selbst zugleich Subjekt und Objekt: das, was wirket, ist das Subjekt, das, zu dem es wird, ist das Objekt. Ich werde ein anderes Ich, das doch dasselbe Ich ist. Die romanischen Sprachen haben dieses Wort nicht, sie müssen es äußerlich umschreiben.” Im Frühjahr 1933 schrieb Wilhelm Stapel - wer außer ihm schrieb das damals? - wir hätten nun einen neuen Reichskanzler, aber im Unterschied von den Kanzlern der letzten Zeit würden wir Mühe haben, ihn wieder los zu werden. Das hinderte Stapel, den konservativen Altmärker, nicht, im Nationalsozialismus auch manche Weiterführung seiner eigenen „völkischen” Ideen und Ideale zu sehen, und führte ihn eine Zeitlang auch in enge Nachbarschaft mit den „deutschen Christen”. Die scharfe und bisweilen bissige Kritik seiner journalistischen Randbemerkungen richtete sich nun nicht nur gegen eine dekadente Großstadtliteratur, sondern verschonte auch Männer und Kreise nicht, denen wir uns dankbar verbunden wußten. So verloren wir allmählich die enge Verbindung früherer Jahre. Aber nach dem Krieg schrieb mir Wilhelm Stapel, er sei wohl auch eine Zeitlang der Verführung des bösen Feindes erlegen; aber seit er ihm „in sein böses Auge gesehen” habe, werde ihn keine Macht der Welt mehr von dem Bekenntnis zu Jesus Christus als unserem Herrn und Erlöser entfernen. Dieses sein ernsthaftes Bekenntnis zu Jesus Christus war freilich verbunden mit einer radikalen Ablehnung der heutigen evangelischen Kirche. Als ich mich aus meinem Bischofsamt löste, begründete er seinen Glückwünsch mit persönlichen Erfahrungen in einer Schärfe des Ausdrucks, die ich nicht wiedergeben kann; und es war für ihn bezeichnend, daß auch dabei das schlechte Deutsch mancher berühmter Kirchenmänner seinen besonderen Zorn und ein tiefes Mißtrauen erweckt hatte. Kurz nach seinem 70. Geburtstag zitierte er Klaus Croth: „He mug toletz ni mehr”; und zu meinem 70. Geburtstag schrieb er mir einen bitteren Brief: „Als ich zwölf Jahre alt war, rannte ich in furchtbarem Seelenschmerz mit dem Kopf gegen die Wand und schrie „Ich will sterben”. Ich lebe immer noch. Muß.” „Ich habe noch einmal meine Heimat, die Nordmark Albrechts des Bären, besucht und bin dort glücklich gewesen. Zu dem politischen und kirchlichen West-Betrieb zucke ich die Achseln, zu dem Ost-Betrieb auch. Weder Westen noch Osten bringen uns das irdische Heil, sondern - wir sind nicht dazu da, daß es uns wohl gehe auf Erden.” Vielleicht habe auch ich ihm zu wenig davon gesagt, wie viel ich ihm danke, und wie sehr ich ihn, auch in seiner unbequemen Art, verehrt und geliebt habe. Inzwischen hat mir noch ein weit entfernt lebender Freund zu dieser Frage geschrieben: „Mir kommt es doch vor, daß das Wort „Arbeit” nicht in dieser Weise mit „Bibel” verbunden werden kann, vielleicht weil eben die Beschäftigung mit der Bibel viel weniger gedankliche Klimmzüge als liebende Versenkung erfordert, und dem widerspricht das Wort Arbeit. Es hat einen Beigeschmack der modernen Betriebsamkeit. Weil man immer arbeitet, meint man, man müsse auch arbeiten, wenn man sich an die Bibel macht. Man kann Handarbeiten, Strickarbeiten, Doktorarbeiten machen, warum nicht auch einmal Bibelarbeit?” Ebenso wichtig ist die Einsicht, daß man mit dem Testverfahren „nicht alles über den Menschen erfahren kann”; aber haben nicht solche Teilerkenntnisse und Feststellungen, wie sie im Testverfahren gewonnen werden können, die unheimliche Tendenz, sich an Stelle des Ganzen zu setzen, und wird hier nicht doch versucht, jenes tiefere Verstehen, das nur in lebendigem und liebendem Umgang und in eindringendem Gespräch gewonnen werden kann, durch ein scheinbar objektiveres, mechanisches Verfahren zu ersetzen? Frau A. schreibt, daß die Freiheit der Person nur dann unangetastet bleibt, wenn die Triebkraft zur Testarbeit nicht Wissensdurst und Neugier, sondern der Wille zu helfen ist; aber wer hält jene pseudowissenschaftliche Neugier, die sich in das Geheimnis der Person eindrängt, fern von dem Gebrauch der Test-Methode? Bleibt dieses Geheimnis der Person - auch des Kindes! - wirklich gewahrt, wenn eben der Test sich selber zutraut, „über den gegenwärtigen Stand der Persönlichkeit Verbindliches auszusagen?” Ich fühle mich keineswegs beruhigt, sondern eher in meiner Sorge und in meiner tiefen Abneigung gegen dieses Verfahren bestätigt und bestärkt. Quatember 1954, S. 250-253 |
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