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Agape in den Alpen
von Derrick Faux und Tullio Vinay

LeerWir haben im ersten Heft dieses Jahrgangs (Weihnachten 1955) in einem ausführlichen Berichtsaufsatz auf die Bruderhofbewegung hingewiesen, die in ihren Anfängen manche Berührung mit Berneuchen hatte und auf dem Umweg über England und Paraguay nach Deutschland zurückgekehrt ist. Wir sind nach der Veröffentlichung dieses Aufsatzes ganz unmittelbar In Kontakt und Korrespondenz mit den „Bruderhöfen” gekommen, die für eines der nächsten Quatemberhefte einen eigenen Beitrag über ihre Bemühungen in Aussicht gestellt haben, Auf diese Weise sind wir auch mit der Zeitschrift der Bruderhöfe „Der Pflug” bekannt geworden, die wie Quatember viermal jährlich erscheint, Sie wurde bisher In England gedruckt (The Plough, Publishing House, Bromdon, Bridgenorth, Shropshire) und soll ab nächstem Heft in Deutschland erscheinen. Im Zeichen gegenseitiger Verbundenheit bringen wir mit dem Einverständnis der Schriftleitung einen Beitrag aus dem „Pflug” zum Abdruck, in dem über den Besuch einiger Bruderhöfer und Bruderhöferinnen in der italienischen Kommunität von Agape berichtet wird. Wir waren schon seit Jahren um einen guten Aufsatz über diesen bemerkenswerten Versuch eines Bruderschafts- und Tagungshauses bemüht, das manche Ähnlichkeit mit der Iona-Community in Schottland hat, aber auch in Beziehungen zur Communauté von Taizé und zu anderen Gemeinschaften steht.

Tullio Vinay - Das Suchen nach gemeinsamem Leben


Reise nach Agape
von Derrick Faux


Auf grasigem Hange erheben sich in einem Hochtal der italienischen Alpen, fünfzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel gelegen, die herb-monumentalen Bruchsteingebäude von Agape. Drei Stunden lang fuhren wir von Turin mit der Kraftpost in die Berge hinein, um im Namen der Bruderhöfe die dort beheimatete Gemeinschaftsgruppe aufzusuchen. Obwohl diese erst aus der Nachkriegszeit herrührt, steht sie doch vermittels der Waldenserkirche in einer gewissen Verbindung mit den mancherlei christlichen Gruppen des Mittelalters, die den schweren und harten Weg einer radikalen Nachfolge gingen.

LeerWährend einer Woche hatten wir Gelegenheit, das Leben in Agape mit seinen Arbeitslagern, Freizeiten und Kursen kennenzulernen, an denen alljährlich junge Menschen aus den verschiedensten Weltgegenden teilnehmen. Das Erlebnis friedlich-brüderlichen Zusammenlebens und -arbeitens während einiger Wochen oder Monate stellt für viele von diesen einen rechten Aufruf dar, und eben dieses praktische Gemeinschaftserlebnis war es auch, welches während des allerersten internationalen Arbeitslagers in Agape im Jahre 1947, als die Eß- und Versammlungshalle sowie die drei terrassenförmig übereinanderliegenden Schlafgebäude errichtet wurden, den Anstoß zur Bildung der kleinen Gemeinschaftsgruppe gab, die jetzt die ganze Arbeit von Agape trägt.

LeerDie Glieder dieser Gruppe stellen ihr ganzes Leben in den Dienst ihrer Mitmenschen, und diesen Dienst tun sie entweder in Form der erwähnten Arbeitslager und Freizeiten, während welcher sie durch persönliche Begegnung und praktisches Beispiel den Teilnehmern etwas von dem Geiste brüderlicher Liebe zu vermitteln suchen, oder - wenn keine Lager stattfinden - als sozialen oder kirchlichen Dienst unter der Waldenser Bevölkerung der benachbarten Gebirgstäler. Ein Mitglied der Gruppe hilft Danilo Dolci in Sizilien bei seiner Arbeit in den dortigen Elendsgebieten. Andere, die sich der Gemeinschaft angeschlossen haben, ohne in Agape selbst zu wohnen und mitzuarbeiten, verpflichten sich zu christlichem Dienste in ihrer jeweiligen Kirchengemeinde und Umgebung und bleiben mit Agape in möglichst innerer enger Verbindung. Alle, die sich - nach einer Bewährungs- und Probezeit von einem Jahre - der Gemeinschaft anschließen, verpflichten sich „in innerer und wo möglich auch äußerer Gemeinschaft zu leben, um Christus mit ihrem ganzen Leben dienen zu können”.

LeerAgapes Lage in einem abgelegenen Gebirgstal bereitet gewisse Schwierigkeiten. Obgleich die Mitglieder die offene Tür für alle, die sich ihrem gemeinsamen Leben anschließen möchten, als das Ideal ansehen, so haben sie praktisch doch noch nicht völlig den Weg dahin gefunden. Hinsichtlich der Größe der in Agape ansässigen Gruppe fühlt man sich durch die verfügbaren Möglichkeiten der Arbeit, der Unterbringung und des Unterhaltes eingeschränkt. Hat man den Eindruck, daß ein Bewerber wirklich zur Mitgliedschaft berufen ist, so bemüht man sich, wenn nötig, ihm außerhalb von Agape eine Möglichkeit des Dienstes zu verschaffen. In der „Ordnung der Gemeinschaft” wird die darin enthaltene Schwierigkeit deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir sind uns bewußt, daß es für ein von der Gemeinschaft getrennt und in einer auf die üblichen wirtschaftlichen Grundsätze des Eigennutzes und Wettbewerbes gegründeten Gesellschaft lebendes Mitglied besonders schwer ist, seine Aufgaben in dem Agape entsprechenden Geiste durchzuführen. In solch einem Falle ist es notwendig, besonders wachsam zu bleiben und im Gebet zu verharren”.

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LeerDie Agape-Wohngruppe trifft sich allmorgendlich, bevor das Tagesprogramm der Lager und Freizeiten abzurollen beginnt, zu einer kurzen Andacht, um sich dann für den Rest des Tages zu den verschiedenen Sonderaufgaben zu zerstreuen. Während die Lagerteilnehmer den Hauptteil der Haushalts- und Säuberungsarbeiten tun, sind die Gemeinschaftsmitglieder damit beschäftigt, die verschiedenen Arbeitsvorhaben zu leiten, die Verwaltung durchzuführen, Gäste zu empfangen, die Freizeitprogramme vorzubereiten. Die Mahlzeiten werden gemeinsam in der Eßhalle eingenommen, wo Mitglieder und Lagerteilnehmer buntgemischt in Gruppen von je acht an den beide Längsseiten derHalle einnehmendenTischen sitzen, und zwar so, daß jeweils nur drei Seiten des Tisches besetzt sind, die vierte, der Mitte zugewandte Seite dagegen frei bleibt, um so die Gemeinsamkeit des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Die diesjährigen Arbeitslager haben die Küche erweitert und die Errichtung von Büro- und Büchereigebäuden vorbereitet. Bei den Studienfreizeiten ging es um die Themen wie „Wert und Sinn unseres Lebens” oder „Einzelne, Massen und Gemeinschaften”.

LeerWährend unseres Aufenthaltes in Agape hatten wir Gelegenheit zum Gedankenaustausch mit Tullio Vinay, dem erwählten Pastor der Gemeinschaft, sowie mit den anderen zehn oder elf Mitgliedern der Agape-Gruppe. Alle gehören der Waldenserkirche an, meist durch bewußten Eintritt. Außer zwei Ehepaaren und zwei unverheirateten Frauen handelt es sich um ledige Männer. Freimütig sprachen wir mit ihnen über die praktischen Einzelheiten gemeinschaftlichen Lebens und hörten, wie sie mit ganz ähnlichen Fragen zu tun haben, wie sie uns Bruderhöfer in den Anfangsjahren beschäftigten. Wo immer Menschen in die Nachfolge Christi treten, kommt es eben zum Kampfe zwischen dem Göttlichen und dem Allzumenschlichen, und in diesem Kampfe kann das Gute nur dann die Oberhand behalten, wenn wir uns gegen alle Hindernisse und Widerstände einmütig für das einsetzen, was wir als den Willen Gottes für uns und für alle Menschen erkennen.

LeerBis jetzt haben die Mitglieder Agapes nicht die Notwendigkeit einer völligen und letzten Einheit gefunden. So sehen sie die Einstimmigkeit nicht für alle Beschlüsse als unumgänglich an, und die absolute Friedenshaltung und Wehrlosigkeit sowie die Gemeinschaft auch der Güter gelten ihnen nicht als Grundsätze. Sie betrachten sich als eine noch in den Kinderschuhen des gemeinsamen Lebens steckende Gruppe, sind bereit, sich durch Ratschläge und eigene Erfahrungen belehren zu lassen und möchten demütig der Leitung des Geistes folgen.

LeerGanz klar aber ist ihnen, daß es um die Hingabe des ganzen Lebens an die Nachfolge Christi geht, und diese Radikalität setzte sie notwendigerweise mancher Kritik und Opposition innerhalb ihrer eigene Waldenserkirche aus. Die Mitglieder erkennen, wie sie sich durch die Furcht vor derartigen Schwierigkeiten haben hindern lassen und möchten im Glauben weiter voran gehen. In dem sogenannten Dokument der Agape-Gemeinschaft erklären sie:

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Leer„Wir bekennen. daß allein Christus Gemeinde schaffen kann; denn er, der lebendige Herr ist es. der die Menschen allezeit herausruft aus ihrem verzweifelten Leben auf daß sie ein geeintes, zu einer lebendigen Hoffnung und fruchtbaren Beziehungen zu anderen wiedergeborenes Volk würden Der biblischen Botschaft zufolge äußert sich dies grundlegende Erlebnis in dreifache Weise: in der Anerkennung der Herrschaft Christi, im Sammeln der Gemeinde und in dem daraus sich ergebenden Dienste. Sich zu Christus als dem Herrn bekennen heißt dankbar eine grundstürzende Umwandlung seines ganzen Menschseins auf sich nehmen, die in eine neue, liebende Verbindung zwischen Gott und Menschen mündet. Unausweichlich ersteht dann Gemeinde, denn Christus bekennen bedeutet, aus seinem Geiste wiedergeboren zu werden, und dieser Geist gibt uns statt der alten, ichhaften eine neue, gemeinschaftliche, die anderen mit einbeziehende Einstellung; in dem Sinne, daß wir in ein neues, auf Vertrauen anstelle von Mißtrauen gegründetes Verhältnis zu ihnen treten und daß wir uns miteinander vom Worte Christi leiten lassen.

LeerSo sind wir also dahin geführt worden, daß wir nach einer Form gemeinsamen Lebens suchen. Auf dieser Suche aber dient uns das bereits Erlebte zur Mahnung, zum Beispiel unsere Erfahrungen während der Zeit, als Agape gebaut wurde. Mehr als einmal mußten wir damals erkennen, daß nur die wachsame Führung des Herrn uns vor der Gefahr eines babylonischen Turmbaues behüten konnte. Durch sein Wort pflegte er uns zu vermahnen, und wir lernten damals, daß alle Gemeinschaften nichts als Vorläufer und Herolde der wahren, unvergänglichen Gemeinde sind - des Gottesreiches. Deshalb schließen wir uns jetzt zur Gemeinschaft zusammen - aber freilich eben im Sinne von etwas Vorläufigem, denn das Reich Gottes ist ja im Anzuge. Auf dieses Reich warten wir - ja, im Glauben erkennen wir es bereits als gegenwärtig unter uns. Wir wissen, daß all unsere Bernübungen nur von der Gegenwart des Reiches in uns einen wirklichen und echten Wert erhalten, und diesem Reich allein soll, sofern es uns vergönnt ist, unser Zeugnis gelten.”

LeerUnser Besuch bei dieser mit solcher Entschiedenheit zum gemeinsamen Leben dringenden Gruppe hoch in den italienischen Alpen - es war die erste Begegnung zwischen den Bruderhöfen und einem Gemeinschaftskreise in Italien - bedeutete für uns eine rechte Freude und Ermutigung. Eine kurze Woche, noch dazu mitten in der die Agape-Gruppe voll in Anspruch nehmenden Lagersaison, war freilich für ein wirkliches Kennenlernen und einen tiefgehenden Austausch nicht genug. Dazu bedarf es weiterer gegenseitiger Besuche, die wir von Herzen erhoffen.

LeerAgapes Suchen nach echtem brüderlich-gemeinsamem Leben als einer Antwort auf die selbstische Ungemeinschaftlichkeit des allgemeinen Lebens der Menschen kommt in einem in Agapes Nachrichtenblatt (News from Agape) veröffentlichten Aufsatz von Tullio Vinay deutlich zum Ausdruck, und wir freuen uns darüber, diesen Artikel im Nachfolgenden wiedergeben zu dürfen.

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Das Suchen nach gemeinsamem Leben
von Tullio Vinay


LeerHätten wir es nicht gleich vom Beginn Agapes an gespürt, so würden doch die Erfahrungen während dieser letztvergangenen Jahre unseres Zusammenlebens gezeigt haben, daß unsere Arbeit hier mit einem Suchen nach. Gemeinschaft, ja, noch mehr, mit ganz konkretem Gemeinschaftsleben untrennbar verbunden ist. Agapes erstes und vornehmstes Ziel war die Verkündigung der Liebe Christi und das Zeugnis - sei es auch noch so schwankend und schwach für diese Liebe. Aber diese Verkündigung, sofern sie in aufrichtige Herzen fiel, mußte trotz der Schwierigkeiten, welche sowohl unsere eigene wie der Welt Art dieser Berufung in den Weg legte, unser Verhältnis zu den uns an die Seite gestellten Brüdern, ja, zu allen Menschen, ganz wesentlich ändern. Unsere Entdeckung, daß Gott uns liebte, bedeutete, daß wir auch die Person unserer Brüder in neuem Lichte sehen, sie geradezu neu entdecken mußten und weiter, daß wir in ein neues Lebens- und Wirtschaftsverhältnis zu ihnen traten. Es mußte uns ferner deutlich werden, daß die brüderliche Gemeinschaft, die uns in Christus mit ihnen verbindet, für uns in dieser Zeit die größte aller Gaben ist, ein wahrer Trost auf Erden, wie jemand sagte, und daß man danach trachten muß als nach etwas, womit man einander auf dem Wege der gemeinsamen christlichen Berufung voranhilft und sich selbst voranhelfen läßt. Schon die Erkenntnis, daß Christus nicht mich, sondern uns zur Verkündigung seiner Liebe berief, hatte uns zu einer Gemeinschaft gemacht, wenngleich ihre Gestalt noch unklar, ihre Stellung noch nicht anerkannt war. In der Gemeinsamkeit unserer Berufung lag bereits die verbindende Kraft der künftigen Gemeinschaft.

LeerAll dies war für uns ein mehr als ausreichender Grund, nach einer Form gemeinsamen Lebens zu suchen. Außerdem aber spielten damals noch zwei weitere Umstände eine Rolle, von denen der eine auch für die heutige Lage noch gilt. Erinnern wir uns zunächst einmal, daß es die Zeit nach dem Kriege war und daß bittere Erlebnisse uns geprägt hatten. Erlebnisse voll von Schmerzen und menschlichen Bosheiten, von Haß und Tod, von eigener Schwäche und Sünde - wiewohl es mitten in all diesem doch auch der Botschaft von dem einen, der allein barmherzig und gut ist, nicht ermangelte, um uns zurückzurufen. In ihm und durch ihn wurde der Menschheit ein Weg aufgetan, von dem wir ein neues Verhältnis und eine neue Gemeinschaft unter den Menschen sowie zwischen Mensch und Gott erhoffen durften. Das drängte uns zur Suche nach dem gemeinsamen Leben, welches Gott uns als praktischen Weg und als Gleichnis seines Reiches vor Augen stellte. Zweitens war uns recht wohl bekannt, was wir auch heute noch erleben, nämlich daß unsere Kirchengemeinden immer mehr verbürgerlichen und ganz und gar dem Individualismus verfallen sind und daß die Familien, statt lebendige Zellen der Kirche zu sein, nur allzuoft bedrohliche Geschwülste werden, welche ihr die Lebenskraft wegnehmen. An dieser Krankheit gehen die Kirchen zugrunde, und wenn sie nicht aufs neue den Weg zu brüderlicher Gemeinsamkeit im echten Sinne und zum gemeinschaftlichen Leben mit seiner überströmenden und sich selbst erneuernden Kraft finden, dann werden sie mehr und mehr und schließlich ganz und gar unfähig werden, ein wirksames Zeugnis zu geben. Unter diesen Umständen wurde es für uns zu einer unausweichlichen Notwendigkeit, dies gemeinsame Leben zu suchen und zu bezeugen.

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LeerIndem wir die Botschaft von der Liebe Christi in die Welt hineinriefen, wurden wir selbst unvermeidlich dahin geführt, die Brüderlichkeit, nach der die leidgeprüfte Menschheit unserer Zeit verlangt, wirklich ernst zu nehmen, und angesichts der bedrückenden Atmosphäre der Gleichgültigkeit, die das gegenwärtige Christentum kennzeichnet, wurde uns die Einheit und Gemeinsamkeit der Christen zu einem ernsten Anliegen. Nicht länger mehr durfte unser Predigen im Abstrakten und Akademischen steckenbleiben - es mußte sich zunächst einmal gegen uns selbst richten, damit wir uns unserer christlichen Berufung entsprechend einstellen und uns klarmachen konnten, was es heißt, jetzt, hier, unter unseren Brüdern und inmitten der menschlichen Gesellschaft in Christus zu sein. Wenn diese unsere persönliche Entscheidung und diese Klärung unserer eigenen Berufung hernach zu einer die ganze Kirche aufrufenden Stimme wurde oder wird, so ist das offensichtlich etwas, was in der Hand Gottes liegt. Denn er kann mit uns Schwachen und Nichtigen tun nach seinem Willen, und obwohl unseres Staunens darüber nie ein Ende sein wird, so wäre es doch nicht das erstemal in der Geschichte der Gemeinde, daß er durch menschliche Schwachheit hindurch seine Kraft erwiesen und Unwürdige zu Werkzeugen und Gefäßen seiner Gnade gemacht hat.

LeerVon den drei Programmpunkten Agapes - ökumenische Begegnung. Gemeinschaftsleben und Bibelstudium -- war der zweite zu Anfang sicherlich der am wenigsten klare, und doch war eben dieser Punkt, nämlich das gemeinsame Leben, das, was uns immer stärker zum Erlebnis wurde, was gleich von den ersten Tagen des Arbeitslagers an mehr als anderes ein Teil unserer selbst wurde, was uns in den dunkleren Zeiten die meiste Not bereitete und uns doch gleichzeitig den größten Trost brachte. Es verlangte, daß wir unser Gewissen erforschten und unsere Sünde bekannten, es trieb uns vorwärts voll glühender Hoffnung und stürzte uns in Verzweiflung, es zwang uns zu immer erneuter Auseinandersetzung mit der Frage der Berufung des Christen im allgemeinen und unserer eigenen persönlichen Berufung im besonderen, es drängte uns, trotz unserer und anderer Kritik, vorwärts in neue Stellungen hinein. Wir dürfen sagen, daß es der Dorn in unserem Fleisch gewesen ist; wir haben stürmische Nächte an den Ufern des Jabbok verbracht, und unser Gang wird auch ferner hinkend bleiben. Vielleicht aber ist es Gottes Wille, aus unserem Erleben seinem großen Namen Ruhm zu bereiten. Wir hoffen es wenigstens.

LeerEs ist nicht leicht, die in Agape gemachten Erfahrungen im gemeinschaftlichen Leben geschichtlich darzustellen. Oft handelt es sich dabei, so widersprechend dies auch klingen mag, um persönliche Tatsachen, die deshalb auch eine verschiedenartige Bewertung fanden. Während des ersten Herbstes (1947) empfanden wir alle, daß wir Gemeinschaft miteinander hatten - war das aber die Frucht bloß unseres gemeinsamen Ringens, oder entsprang es einem wirklichen Bewußtsein unserer Einheit in Christus? Inwieweit waren diese beiden Elemente miteinander vermischt? Und in welchem Maße überwog bei einem jeden von uns entweder das eine oder das andere davon? Und weiter: Können wir sagen, daß wir sogleich begreifen und zu schätzen wissen, was uns geschenkt wird? Ist dies Geschenkte als gültig anzusehen, selbst wenn es nicht in seinem ganzen Werte verstanden wird oder etwa nur dann. wenn man sich der Bedeutung der Gabe voll bewußt ist? Immerhin bleibt die Tatsache bestehen, daß wir uns zu Ende des ersten Arbeitslagers eng miteinander verbunden fühlten und daß Gespräch und Gedanken sich immer wieder der künftigen Gemeinschaft zuwandten, mochten unsere Vorstellungen davon auch noch so verschwommen sein.

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LeerIn den folgenden Jahren gingen wir weiter. Aber während einige von uns den Winter zusammen verbrachten, unterzogen andere das im Lager Geschehene und die sich daraus für uns und für viele andere ergebenden inneren Folgen einer persönlichen Kritik. Der Wunsch, die Menschen mit ihren persönlichen und sozialen Problemen tiefer verstehen zu lernen, ließ uns oft an hervorbringende oder dienende Gemeinschaften in Armutsgebieten denken, etwa in der Richtung von Danilo Dolcis Unternehmen in Sizilien, nur daß wir eine ausgesprochene Evangelisationsarbeit im engeren Sinn damit zu verbinden gedachten. Endlich, im Jahre 1951, erfolgte die Einweihung von Agape, und damit trat die Notwendigkeit an uns heran, unsere Stellung mit Bezug auf das Predigen der früheren Jahre ehrlich zu klären. Das Ergebnis war die Bildung einer Wohngruppe, die sich zunächst als eine Gemeinschaft des Dienstes herausstellte, mit einer Verpflichtungszeit zwischen vier und vierundzwanzig Monaten. Aus Furcht vor den Gefahren, denen eine solche Gemeinschaft, theologisch betrachtet, ausgesetzt sein mochte, hielt man ein längeres Verbleiben der Mitglieder nicht für ratsam, wenngleich unser Dienst und Zeugnis immer stärker nach einer längeren Verpflichtungszeit verlangten. Eine mehr festgefügte und dauernde Gemeinschaft konnten wir uns leichter in einem mehr entlegenen Gebiet wie Kalabrien oder Lucanien vorstellen, wo die Tiefe des menschlichen Elends um uns herum uns vor dem Erstarren zu einer Institution behütet und uns ein täglich erneutes „Sterben” mit unseren vor Hunger und Verzweiflung sterbenden Brüdern zur Pflicht gemacht hätte.

LeerDoch erhob sich die beunruhigende Frage, warum wir Pläne machen sollten, dem Herrn irgendwo in der Ferne zu dienen, wenn er uns doch hierher gestellt und hier unseren Dienst von uns forderte? Sollten wir nicht vielmehr zu Werkzeugen seines Willens werden für diejenige Arbeit, in der wir innerlich miteinander aufgewachsen waren und die uns jetzt brauchte? Selig die Kindlein, die nichts davon wissen, wie ein bestimmtes Erlebnis allbereits von der Geschichte gewogen und zu leicht befunden wurde, und die ihm daher unbeschwert entgegengehen. Wir erkannten, daß der Widerstreit zwischen der Theologie und dem täglichen Leben nicht nur der Schwäche des Fleisches, sondern auch der theologischen Furcht vor der Befleckung durch die Praxis zuzuschreiben war. Was würden die Leute zu uns sagen, wenn wir weiter einen Weg verfolgten, auf dem wir, eins nach dem anderen, zu so vielen „theologisch” unbequemen Ergebnissen kommen konnten! Ging doch unser Kurs nicht in Richtung der kirchlichen Rechtgläubigkeit. Der Gefahren waren viele, wir waren weit „vernünftiger”, als viele, die uns kannten, meinten, und wir sahen unsere zutage tretenden Mängel mehr als die Hilfe des Herrn, der unsereFüße auch auf diesem dornigen Pfade zu leiten vermochte.

LeerDie Agape-Gemeinschaft kann nur als Antwort auf einen Ruf verstanden werden, dem wir schließlich Folge leisten mußten. Er war nicht größer oder gültiger als andere christliche Berufungen; aber es war ein Ruf, auf den wir Antwort zu geben hatten. Immer stärker wurde die Spannung, bis schließlich die theologischen Skrupel und die Angst vor Wagnis und Kritik dahinschwanden vor der Notwendigkeit, unsere Stellung zu klären und uns gemeinsam zu entscheiden. Hätte der Feigenbaum nicht Früchte getragen zur Zeit seiner Heimsuchung, er wäre umgehauen worden.

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LeerNicht die Arbeit von Agape, sondern wir selbst waren der Feigenbaum. Wir wären umgehauen worden.

LeerGewiß hatten wir den Widerstreit zwischen unserer Berufung als Christen und den Tatsachen unseres täglichen Lebens oft schwer empfunden, die Spannung zwischen dem „ich kann nicht anders” und dem täglichen traurigen „das Böse, das ich nicht tun will, das tue ich” - jetzt aber kam der Augenblick, wo der Konflikt sich dermaßen zuspitzte, daß er in den Verzweiflungsschrei mündete: „Wer macht mich frei von diesem Leibe des Todes?” Und auf diese bis zum äußersten gesteigerte Spannung kann durch Gottes Gnade der Lobgesang der Erlösung folgen: „Gott aber sei Dank durch Christum Jesum, unseren Herrn”. Einige von uns zogen sich in ein Haus in Orgeveaux in der Schweiz zurück, um die besondere Berufung der zu formenden Gemeinschaft klarzustellen und ihre Gestalt in Umrissen zu entwerfen. Orgeveaux stellte den Zusammenbruch unserer Pläne und alles dessen dar, was unsere eigene Kraft zuwege bringen konnte, daß wir uns hinfort dem Plan und der Kraft des Herrn unterwarfen. In den letzten Worten des dort niedergeschriebenen Dokumentes kommt die innere Haltung der soeben entstehenden Gemeinschaft zum Ausdruck: Wir bitten den Herrn, er möge uns mit seinem Geiste leiten und uns nicht unserm eigenen „gesunden Menschenverstande” oder menschlicher Weisheit preisgeben. Deshalb leben wir in dem frohen Vertrauen, daß Gottes Liebe uns nicht im Stich lassen wird.

LeerDies Dokument der Gemeinschaft wurde auch von anderen, die darin ihr gemeinsames Empfinden zum Ausdruck gebracht fanden, freudig aufgenommen, und so entstand die Agape-Gemeinschaft, ungesichert auf der Ebene des Menschlichen, doch voller Freude in Christus.

Tullio Vinay (1909-1996)

Quatember 1956, S. 225-230

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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