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Meditation in der Michaelsbruderschaft
Nach einem Menschenalter XIX
von Otto Haendler

LeerIm Osterheft 1955 des Quatember hat Karl Bernhard Ritter über „Die Entdeckung der Meditation” geschrieben. Diese kurze Erinnerung „nach einem Menschenalter” enthält zu gut zwei Dritteln ein lebendiges Gemälde der Persönlichkeit Karl Happichs. Und das ist recht so. Von Meditation in der Bruderschaft kann nicht gesprochen werden ohne die dankbare Erinnerung an den Mann, der ganz wesentlich der Begründer der meditativen Praxis in der Evangelischen Michaelsbruderschaft gewesen ist, unter dessen Führung sie entscheidend gestanden hat, bis er - uns allen zu früh - vor jetzt zehn Jahren aus unserer Mitte genommen wurde.

LeerAls ich mich 1932 mit einiger beruflicher Gewaltsamkeit entschloß, auf eine Woche zur Westerburg zu fahren, geschah das ganz wesentlich deshalb, weil ich von Happich und seinen Meditationen gehört hatte und von dem Empfinden umgetrieben war, daß da etwas ganz Entscheidendes für Kirche, Amt und Seelsorge, vielleicht für das ganze Menschsein überhaupt im Anzüge sei.

LeerDie mit Spannung erwartete erste Meditation fand im Saale der Burg statt -, viele von uns haben ihn in sehr lebhafter Erinnerung. Happichs einführende Worte wurden gesammelt und anspruchslos vorgetragen. Vielleicht ist es auch heute noch für manchen bedeutsam, wenn ich nun fortfahren muß: Was dann geschah, habe ich mit innerer Aufgeschlossenheit miterlebt, noch ein wenig ratlos, und - nicht ohne ein Nebenempfinden von leiser Enttäuschung. Das ist alles? Freilich war dieses „Wenige” zugleich irgendwie (mehr hätte ich damals nicht sagen können) auch festhaltend. Und eben diese erste Erfahrung ist typisch für den Anfang bei vielen und ist zugleich im Wesen der Sache begründet: das Miterleben einer Meditation setzt eine Sammlung, Bereitschaft, Lockerung und auch Übung voraus, die man im Anfang meist eben einfach noch nicht hat. Was die Atmung dabei zu bedeuten habe, blieb mir zunächst völlig verschlossen. Auch das mit gutem Grund, denn man muß sich in das lösende und öffnende Atmen erst hineinfinden. Viele Jahre später, als ich selbst längst Meditationen hielt, gab Einer der mittleren Generation dem einmal guten Ausdruck, indem er sagte, offenbar müsse man in eine innere Tiefe von seelischen Schichten hineinkommen, die eben „wir Jüngeren” meist nicht erreichten (wobei der Ausdruck „Jüngere” sich nicht auf das Lebensalter, sondern auf die meditative Erfahrung bezog).

LeerEs hängt damit zusammen, daß Happich entscheidenden Wert auf Meditationen „weltlichen” Inhaltes legte. Seine drei klassischen Grundmeditationen Wiese-Berg-Kapelle sind inzwischen bekannt geworden und haben weithin, auch medizinisch und psychologisch, Anerkennung gefunden, weil sie die seelischen Grundschichten klären und ordnen, und das ist ja eine Voraussetzung nicht nur für alle geistig-seelische Gesundheit (und Gesundung) überhaupt, sondern auch für fruchtbares geistliches Leben im spezielleren Sinne. In der Bruderschaft sind diese und ihnen entsprechende Meditationen lange Zeit hindurch als unentbehrlicher Bestand der Meditationspraxis angesehen und ausgeübt worden.

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LeerHappich ging erst von ihnen zur Meditation von Zeichen (Symbolen) und erst von diesen, und zwar im Prinzip jeweils erst nach gefestigter Übung in jedem vorhergehenden Bereich, zur Meditation von Worten (Bibelworten und anderen) über. Wichtig war ihm das besonders für Theologen, weil diese sich am schwersten von der Gewöhnung lösen, Worte nur zu durchdenken, statt sich ihrer Wirklichkeitsmacht aufzutun, und zwar nicht aus Mangel an Bereitschaft, sondern aus Mangel an Übung für den tieferen und wesenhafteren Weg. Es erscheint mir nach wie vor von entscheidender Bedeutung zu sein, daß alle Meditation geistlichen Inhaltes ihr Gegengewicht in solchen allgemeinen Meditationen hat, weil nur so der ganze Mensch von der Wirkung der Meditation erfaßt wird.

LeerDie Bruderschaft ist dann weiterhin einen bestimmten und grundsätzlich bedeutsamen Weg in der Entwicklung der Meditationspraxis gegangen.

LeerZunächst ist zu sagen: Von der Ratlosigkeit der vielen her, die Andacht und Vertiefung suchten, war der Bruderschaft die kultische Gestaltung der Feiern zur Notwendigkeit geworden. Man wird sagen dürfen, daß schon die Erkenntnis dieser Notwendigkeit, ebenso dann die Art der Durchführung, die Gestaltung an sich wie auch die besondere Arbeit an der Wiedergewinnung der Gregorianik, nicht ohne eine weithin noch halb unbewußte meditative Grundhaltung möglich gewesen wäre. Alle liturgisch-kultische Feier in der Bruderschaft ist bewußt von meditativer Grundhaltung getragen, und damit hängt eines ihrer bedeutsamsten und wirksamsten Merkmale mit der Meditation unmittelbar zusammen.

LeerDann aber ergab sich daraus das Bemühen, nicht nur das geistliche Symbol und das Wort der Schrift zu meditieren, sondern auch das kultische Verhalten in der Kirche Christi meditativ zu verstehen und seinen meditativen Gehalt erkennbar und nutzbar zu machen. Der Ursinn mancher kultischen Handlung ist dadurch neu und tiefer verstanden worden, die kraftgeladene Bedeutung kultischer Übungen, gerade auch so „einfacher”, wie etwa Handauflegung, ist dadurch in seinem tieferen Sinn ohne (gerade ohne) Abgleiten in Mystik oder Magie gegenwärtig und lebendig geworden. Ähnliches gilt von der leiblich-seelisch-geistigen Ganzheitsbedeutung der Bewegungen im kultischen Raum, wie Schreiten zum Altar, Händefalten und Knien.

LeerDaß die Predigt wesenhaft in den Kultus hineingehört und wesenhaft kultischen Charakter trägt, ist zwar nicht eine neue Erkenntnis, wohl aber ist es von der Meditation her neu verstanden worden und hat sich an so mancher sicherlich nicht nur mir eindrucksvoll erinnerlichen Predigt wegweisend gezeigt. Wir haben daran auch das neu erfahren, in welchem Maße die Predigt trotz des diskursiven Charakters des gesprochenen Wortes die Gemeinde unmittelbar in kultische Haltung und Tiefe hineinführen kann, wenn sie aus dieser Tiefe geboren ist und in einer meditativ durchdrungenen Sammlung gehalten wird. Ich wage es, hinzuzufügen: ich entsinne mich sogar eines Einzelfalles, in dem die tiefe Würde einer echten Feier durch eine Wendung voller Humor nicht vermindert wurde, sondern eher in ihrer Eindringlichkeit und Wirklichkeit noch stärker zum Ausdruck kam.

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LeerAlle wirkliche Meditation aber wirkt sich auch in schwierigen Situationen aus. Wo so intensiv um Wirklichkeit und Gestaltung gerungen wird, wie in der Bruderschaft, da stoßen auch die gegensätzlichen Meinungen oft mit besonderer Wucht aufeinander, zumal wenn die allgemeinen kirchlichen Spannungen auch in einen engeren Kreis hineinwirken. Ich denke noch heute mit gehobenen, ja beglückten Empfindungen an Gespräche zurück, in denen solche Spannungen unerbittlich bis zum letzten ausgetragen und doch in jedem Augenblick in einer Ehrfurcht vor der Überzeugung des anderen, in einer ethischen Höhenlage und in einer echten Brüderlichkeit durchgeführt wurden, die für die Bedeutung der Meditation als Gestaltungsmacht im persönlichen Leben und Verhalten ein eindrückliches Zeugnis ist.

LeerUnd entsprechendes gilt von der Fülle der Tage gemeinsamen Lebens, die nun ebenfalls von der Meditation her ihren besonderen Charakter bekamen. Weithin ist es von jeher als die entscheidende, mindestens als eine ganz wesentliche Hilfe empfunden worden, daß Tage, in denen man aus der Fülle und aus der zerstreuenden Vielfalt beruflicher Anforderungen heraus Stille suchte, diese nicht nur im Freisein von den Forderungen des Tages boten, sondern in gestalteter Durchformung. Sie waren gefüllt, aber nicht überfüllt. Sie waren durchdrungen von der gesammelten Kraft ernster und konzentrierter Leistung, und zugleich von der gesammelten Ruhe befreiter und gelöster Feier. Sie waren erfüllt von Leben und zugleich getragen von Stille. Sie waren reich an Begegnung und zugleich an Alleinsein vor Gott und mit sich selbst. Und auch da, wo man mit mehreren das Zimmer teilte, konnte man für sich sein in ganz anderem Maße, als das sonst in ähnlichen Fällen möglich ist. All das ist aus der Meditation geboren und nicht zuletzt die Schweigezeiten, die schon dadurch die Kraft der Meditation erweisen, daß es möglich ist, sie anzusetzen und durchzuhalten.

LeerDas hat sogar noch bedeutsame Ausstrahlungen in weitere Kreise hinein. Ich entsinne mich einer Freizeit mit wohl an siebzig Teilnehmern, die ganz überwiegend von all dem und zumal von Meditation noch nichts erfahren hatten. Der Weg von den Quartieren zu der Kapelle, in der die Morgen- und Abendfeier gehalten wurde, betrug auf der Chaussee 10, durch den Wald 20 Minuten. Wir haben es nach einigem Zögern gewagt, den Teilnehmern den weiteren Weg zuzumuten, so daß sie also täglich viermal je 20 Minuten schweigend miteinander gingen. Noch lange danach wurde gesagt, daß von der ganzen Woche nichts so eindrucksvoll und so nachwirkend wohltuend gewesen sei, wie diese schweigend zurückgelegten Wege!

LeerDem ähnlich wird mancher ebenso wie ich gerade durch die meditative Sammlung, mit der sich uns die Räume füllten, so manchen Dom, manchen Kreuzgang, manche Kapelle in unvergeßlicher Erinnerung haben. Und das bleibt dann im Menschen als inneres Bild, das er erneut heraufrufen kann auch weiterhin, und als Ansatz zu neuer meditativer Sammlung, Erfahrung und Erkenntnis.

LeerEben dadurch steht die Meditation in wesenhafter Verwandtschaft mit dem Herzschlag des Glaubenslebens, dem Gebet. Und ihre Verheißung hat sie darin, daß sie nach allen Seiten hin offen ist und alles fördern und stärken kann, was zum rechten Leben vor Gott und unter Menschen gehört.

Quatember 1957, S. 159-161

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-27
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