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Vom Ursprung der Sprache
von Bernhard Rang

LeerNie wird der Mensch das Geheimnis der Sprache, ihren Ursprung begrifflich erfassen können. Schon dieses Wort Ur-Sprung weist auf einen unergründbaren, urhaft-spontanen Schöpfungsakt. Sprache ist, wie in Anknüpfung an Sprachdenker wie Hamann, Herder, Humboldt für unsere Zeit Max Picard aufzeigt, ein dem Menschen „Vorgegebenes”. Sie ist nicht „entstanden” und auf welche Weise auch immer vom Menschen her gemacht und gebildet. Ihr Ur-Sprung geschah im einmaligen Akt der Ur-Schöpfung dieser Welt und unserer Menschenerde. Die sogenannte Sprachwissenschaft und die psychologisierende Philosophie versuchen, immer neue Theorien über die Entstehung der Sprache wie der Sprachen aufzustellen.

LeerAuch dazu hat sich Picard unmißverständlich in seinem Buch „Der Mensch und das Wort” geäußert; alle diese Theorien verfehlen die Grundtatsache, auf die schon Humboldt in seiner geistvollen Abhandlung „Über das vergleichende Sprachstudium” hinwies: „Es hilft nichts, zu ihrer Erfindung Jahrtausende und abermals Jahrtausende einzuräumen. Die Sprache ließe sich nicht erfinden, wenn nicht ihr Typus schon in dem menschlichen Verstande vorhanden wäre. Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft, nicht als bloßen sinnlichen Anstoß, sondern als articulierten, einen Begriff bezeichnenden Laut verstehe, muß schon die Sprache ganz und im Zusammenhang in ihm liegen.”

LeerHumboldt wagt den Satz, den wir auch theologisch auszulegen haben: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.” Diese „Vorgegebenheit” der Sprache darf aber nicht dazu verleiten, sich die Sprache als etwas fertig Gegebenes zu denken. Auch das, was wir Sprache hinter oder über den gesprochenen wie geschriebenen Sprachen nennen, auch diese uns gegebene Sprache ist Schöpfung, das heißt lebendig sich wandelnder Organismus, keine „tote Masse im Dunkel der Seele”. Vom Schöpfungsakt wird also gehandelt, wenn vom Ursprung der Sprache gehandelt werden soll.

LeerIn den „pneumatologischen Fragmenten”, die Ferdinand Ebner 1921 unter dem Titel „Das Wort und die geistigen Realitäten” im Brenner-Verlag zu Innsbruck herausgab, hat der damals knapp Vierzigjährige einen erstaunlichen Versuch unternommen, das Verhältnis und Verhalten des Menschen zur Sprache nun eben nicht rational oder psychologisch, sondern von den urgegebenen „geistigen Realitäten” her, also pneumatologisch und eben vom Ursprung her, zu betrachten. Wer immer in jenen Jahren durch den Brenner-Kreis um Ludwig von Ficker und Männer wie Theodor Haecker, Georg Trakl, Dallago, Karl Kraus sich innerlich angestoßen fühlte, mußte auch aufhorchen, als aus verwandtem Geist, hier vom Wort und der Sprache ausgehend, jene menschliche Grunderfahrung des für unsere Existenz so entscheidenden Ich-Du-Verhältnisses dargestellt wurde, auf dessen Bedeutung als dialogisches Prinzip, wenn auch von anderem Ausgangs- wie Zielpunkt, Martin Buber gleichzeitig hinwies (bedeutende Einsichten vollziehen sich ja, aufsteigend wie in kommunizierenden Röhren, oftmals zu gleicher Zeit).

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LeerEbners jetzt in neuer Auflage vorliegendes Buch spricht nicht von der Sprache allein. (Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente. Gesammelte Werke, im Auftrage der Ferdinand-Ebner-Gesellschaft herausgegeben von Michael Pfliegler und Ludwig Haensel, Band I. Wien 1952, 361 Seiten, Lw. DM 13.50) Quintessenz ist ihm der Ruf des Christen an das innerste Gewissen, sich zu Gott zu entscheiden. Gott: der Sprechende, Rufende. Der Mensch: der Angesprochene, der den Anruf Vernehmende. Noch redet im Ursprung der Mensch nicht. Die Antwort - und das heißt auch die Verantwortung - geschieht erst in der Negation, im Verstummen des ersten Sündenfalls. Mit dem Sündenfall beginnt, wie auch Picard bemerkt, erst das eigentliche Problem der Sprache: daß wir sprechend erst miteinander existieren, existieren freilich als vom Du getrenntes Ich, mit der Möglichkeit, mit und in der Sprache, im Sprechen wie Schweigen des Worts einander zu verstehen wie auch zu verfehlen, mißzuverstehen.

LeerDiese Genese der Sprache, wie sie der Genesis selbst entspricht, erfährt bei Ebner eine eigentümliche, bei aller Subjektivität und wissenschaftlichen Unbeweisbarkeit erregende und die religiöse Erfahrung bestätigende These. Auf die Frage nach der „Entstehung”, nach dem Beginn des menschlichen Sprechens, nach dem ersten Wort, gleichsam dem Urwort, antwortet Ebner: ein Wehschrei! „Der Mensch wird noch immer mit einem Wehschrei geboren und ein Wehschrei war auch sein erstes Wort nach seinem Abfall von Gott.” Es ist der Schrei geboren aus der Urangst, den das Kind ausstößt, wenn es aus dem Geborgenen des Mutterschoßes nackt und bloß ins Leben tritt, ein Wehschrei, der zugleich der erste Atemzug, der eigentlich lebenspendende ist. So muß es auch „zu Anfang” mit dem Menschen, dem ersten Menschen geschehen sein: „Vom Augenblick des Abfalls von Gott an mußte der Mensch die Sprache neu lernen, indem er sich das Wort - in der dunklen Erinnerung an jenes erste, das von Gott war und durch das Gott ihn geschaffen hatte - neu erschuf.”

LeerUnd Ebner meint, daß das erste Wort, mit dem der Mensch im urhaften und wörtlichen Sinn ein „Lebenszeichen” von sich gab, ähnlich dem Wehschrei des eben geborenen Kindes eine zunächst bloße, aber doch schon artikulierte Interjektion, ein Schmerzens-Urruf war, ein Satz in der ersten Person: aham! Aham aber, das Sanskritwort für Ich, enthält in sich den Ur-satz: Ich bin ich. Indem das ursprüngliche Wesen aus gepreßter Brust und bedrängtem Herzen diesen Ich-Wehruf ausstieß, vollzog es weniger die Selbstsetzung des Ichbewußtseins, sondern in leidenschaftlich erregter Erkenntnis die seines Verlorenheits-Bewußtseins: Ich bin und leide. „Das war der Sinn des Urworts. Im Leiden seiner von Gott abgefallenen Existenz wurde der Mensch seiner selbst sich bewußt und besann sich aber auch der Tatsache, daß er das ‚Wort habe’, und so wurde er zum sprechenden Wesen. Das Geistige in ihm, das seiner selbst sich bewußt werdende Ich, suchte das Du, und so wurde es zum Wort.”

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LeerMan verstehe diese vielleicht kühne und unbeweisbare, immerhin auch sprachlich durch Vergleichung ältester Sprachen belegbare These (besonders Jakob Grimm ruft hier Ebner zur Stütze und Hilfe auf) in ihrer tieferen und eigentlichen, wahrhaft pneumatologischen Bedeutung. Aus Leiden, Schmerzen, Bedrängnis, Qual und Angst entstand jegliches Leben des Geistes und der Seele. Aus welchen Untiefen hat sich der Menschheit das sittliche Bewußtsein entrungen! Kultur, die immer mit dem Kultus in geheimnisvollem Zusammenhang steht, setzt stets Verfall voraus, Abfall nämlich des Menschen und der Menschheit von der Natur, von den Dingen, vom Einklang aller seelischen und leiblichen Kräfte.

LeerAuch das Verhältnis der Geschlechter weist die „Gebrochenheit” des Lebens auf. Die moderne Biologie hat bezeugt, daß in diesem Verhältnis von Mann und Frau der dem Geist stärker Verfallene, der Mann, auch schon in seiner Keimungsepoche eine Schwächung ins Leben bringe, während die Frau der „Natur” näher und darum dem Leben gegenüber widerstandsfähiger sei. Hier muß die Bedeutung des Lebens als einer die Materie, die „Schwere” überwindenden Bewegung zuinnerst erkannt werden. Darauf hat schon Franz von Baader in seiner Schrift „Über die Begründung der Ethik durch die Physik” aufmerksam gemacht. Hinweisend auf den alten Chemikerspruch, „daß der Sohn ungleich edler und besser ist als die ihn gebärende (nährende) Mutter”, tut er dar, wie das Leben aus der Tiefe steigt, indem ein Tragendes sich ihm vorher „subjiciert”, unterbreitet und untergründet, Leben so aber die unaufhörliche Gründung und Lösung des Oberen und Unteren, die „Rotation” des Höheren sei, das begeistet, entzündet, entflammt, mit jenem Niederen, das unterhält und nährt.

LeerErkennen wir nun, wie tief begründet die Ebnersche These ist. Denn Sprache als Laut gewordenes Leben, als Geist-Manifestation, kann sie ein anderes Prinzip zeitigen als eben dies der die Hemmung und Grenze überwindenden Bewegung? Mußte nicht, wo die Bedrängnis, Härte und Schwere des Daseins den Menschen am stärksten erfaßte, das befreiende Wort sich bilden, die das Leben lösende Sprache in ihm geboren werden? Mußte nicht des Menschen ganze Existenz in eine Krisis und Entscheidung treten, eine Entscheidung von Leben und Tod, damit das „Wort” sich ihm wieder gebäre, das Wort, das ihn zu Anfang erschaffen, dessen lebendiger Odem auch ihm einblies den lebendigen Atem? Daß er es wiederfinde, das „verlorene” Wort, die heilige und heiligende Sprache Gottes! Einen Nachklang noch dieser wehvollen Sprachgeburt künden die Verse Goethes, die er vom Dichter spricht: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.

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LeerJenes Urwort, gegeben dem Menschen, daß er sich von dem furchtbaren Druck seiner qualvollen Stummheit befreie, ist nicht sinnlos hinausgeschrien worden ins „Leere”, sondern war zugleich Ruf und Anruf, Bitte und Gebet. Im Urwort verbarg sich bereits der Ursatz. Auch die Sprachwissenschaft hat erkannt, daß in allen Sprachen der Satz vor den Wörtern ist, daß im „Worte” der Satz schon präexistiert. Mit dieser Erkenntnis begreifen wir, daß nicht Poesie, nicht Gesang, sondern Prosa der Anfangsgrund allen Sprachlebens gewesen sein muß. Nicht ohne Grund ist die Bibel, das Buch der Bücher, trotz ihrer rhythmischen Fassung eben nicht Poesie, sondern Prosa: Überlieferung des Satzes, der Setzung und des Gesetzes. Das ist der Sinn jedes Satzes: „Setzung”, Setzung des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Du, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Gott.

LeerEs ist die Gefahr, wie Picard richtig sieht, daß Ebner die Sprache ganz und gar vom Verhältnis des Ich zum Du oder des Du zum Ich betrachtet. Es entgeht ihm mit dieser rein polaren Verspannung, daß das Wort, die menschliche Sprache auch wegen der Objekte da ist, womit nicht die begriffliche Erkenntnis gemeint ist, sondern ihre „Entsprechung” im Wort. Denn, wie Picard sagt, „die Objekte wollen eine Entsprechung im Wort, die pure Faktizität der Objekte wäre noch dichter, materienhafter, wenn sie nicht eine Entsprechung im Wort hätten. Die Dinge werden durch die Sprache im Gleichgewicht gehalten”. Aber Ebner hat zugleich richtig gesehen, wenn er im Wort, dem ersten Wehwort wie jedem ihm folgenden, das „Vehikel” erkennt eben dieses Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Du, also auch zwischen Mensch und Gott. Im Urwort ‚ich bin’ einen sich Verbum und Pronomen. Von ihnen sagt Grimm in der Vorlesung über den Ursprung der Sprache: „Hebel aller Wörter scheinen Pronomina und Verba; das Pronomen ist nicht bloß, wie sein Namen könnte glauben machen, Vertreter des Nomens, sondern geradezu Beginn und Anfang alles Nomens.”

LeerAuch die vergleichende Sprachwissenschaft hat erwiesen, womit sie die Ebnersche These stützt, daß ursprünglich alle attributiven Sätze „demonstrativen” Charakter besaßen. Wie der Ursatz aufs tiefste den lebendigen Bewegungssinn der Sprache, ihre „verbale” Richtung ausdrückt, wie er, aus der Bewegung, dem Wehschrei entsprungen, Leiden aussagt, ein wahres „Passivum”, so stellt er zugleich auch den Akt des geistigen Lebens dar, kein zielloses Intransitivum, sondern ein echtes, tätiges Transitivum. Die tiefere Bedeutung ist hier, wie Ebner ausführt, weniger ein Er- oder Begreifen, sondern ein Ansprechenwollen, „das Bedürfnis des Geistigen in der sprechenden Person, sich mit etwas Geistigem außer ihr in Verbindung zu setzen”. Und wiederum ist jenes aus einem Wehschrei hervorgegangene Urwort in seiner letzten Gegründetheit erwiesen worden, nämlich als ein Anruf Gottes. In solchem Anruf aber dürfen wir den letzten Sinn der Sprache selbst ansehen, nach dem Wort des Psalmisten: De profundis clamavi.

Quatember 1957, S. 164-166

[Zu Friedrich Ebner siehe auch: Ottoheinz v. d. Gablentz - Wort Gottes und menschliche Sprache]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-27
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