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Die „Kirchenmaus” in Kirchberg
von Paul Rohleder

LeerIn Heft 2/1972 wurde unter der Überschrift „Arnoldshain V in Kirchberg” über die dortigen theologischen Gespräche zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland berichtet. Kürzlich erreichte uns ein ganz andersartiger Bericht von dieser Tagung, den wir unseren Lesern nicht vorenthalten wollen. Er stammt von dem langjährigen Leiter des Hauses, Dekan i. R. Paul Rohleder. Wir bringen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung des „Stuttgarter Evangelischen Sonntagsblattes”, das manchen schwäbischen Christen, die unsere Zeitschrift sicher nie zu Gesicht bekommen, auf diese Weise einen kleinen Einblick in das Leben von Kloster Kirchberg gegeben hat. Leider sind dort (Nr. 14/107. Jg.) Name und Ort des früheren Dominikanerinnen-Klosters und seiner Wallfahrtskirche nicht erwähnt.

LeerSeltsame Umstände trafen zusammen und gaben dem Gottesdienst, von dem ich erzählen will, ein ungewöhnliches Gepräge. Es war eine russisch-orthodoxe Eucharistiefeier vor evangelischen Christen in der Wallfahrtskirche eines früheren Dominikanerinnenklosters. Nicht weniger ungewöhnlich als diese äußeren Umstände war die personelle Zusammensetzung der beteiligten interkonfessionellen Gemeinde. Handelte es sich doch um eines der in mehrjährigen Abständen stattfindenden offiziellen Gespräche zwischen der Orthodoxen Kirche in Rußland und der Evangelischen Kirche in Deutschland. So waren da unter einem Metropoliten allerlei orthodoxe Würdenträger zugegen - ein Erzbischof, einige Bischöfe und Professoren der theologischen Akademie. Dieser Zusammensetzung entsprach diejenige der evangelischen Teilnehmer - der Präsident des Kirchlichen Außenamtes mit einer Schar von Theologieprofessoren von Rang und Namen. Gäste kamen hinzu, ein paar Dolmetscher und die Hausgemeinde des Klosters, welches seit Jahren als evangelisches Haus der Einkehr und Begegnung dient.

LeerNoch ein Wort über Geschichte und Gestalt dieser Wallfahrtskirche. Sie liegt einen Stock tiefer wie die Nonnenempore, bildet aber mit ihr eine räumliche Einheit und erweitert diese als langgezogenes Schiff nach Osten. Der abschließende Hochaltar bildet mit zwei vorgelagerten Seitenaltären einen kleinen Chor. Er liegt nur eine Stufe höher als das Schiff. Zum Hochaltar führen einige weitere Stufen empor. Von den mannigfachen Kunstwerken des Gotteshauses, dessen barocke Gestaltung um 1700 vorgenommen worden war, ist für uns der linke Seitenaltar wichtig. Vor einem großen Gemälde steht die Plastik eines sogenannten Vesperbildes, einer Marienklage von großer Ausdruckskraft. Maria, die Mutter Jesu, nimmt am Karfreitagabend nach der Kreuzabnahme und vor Beginn des Sabbates Abschied von dem Sohn und Herrn. Gebeugt von der unsagbar schweren Last der Stunde, neigt sie sich über ihn. Aber es ist nicht die Gebärde der Verzweiflung, sondern des Wachens und Wartens, als entzünde der kaum verklungene Ruf: „Es ist vollbracht!” in ihrem Herzen gegen allen Augenschein ein neues Hoffen über Bitten und Verstehen.

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LeerNeben diesem Altar interessiert uns noch ein altes an der Nordwand angebrachtes Tympanon. Eine erhöhte Scheibe zeigt das Lamm, das geschlachtet ist, durch Glorienschein und Siegesfahne aber zugleich ausgewiesen wird als der Löwe, der überwunden hat. Ein schöner, gesunder Eichenzweig wächst im Kraftfeld Christi um die Scheibe. Dieses „In-Christus-Sein” ist das Lebenselement, das uns heilt und heiligt. Außerhalb dieses Kraftfeldes sieht man Schwein, Löwe und Bock - Tiersymbole, welche veranschaulichen, wie der Mensch außer und ohne Christus von wild wuchernden niederen Anlagen heillos versklavt werden kann durch Maßlosigkeit in Fressen und Saufen, in Gewalt und Sinnlichkeit.

LeerDas deutsch-russische Gespräch ging in Vorträgen und Aussprachen um die Bedeutung der Auferstehung Jesu für das Heil der Welt. Und nun war die Stunde der russischen Sakramentsfeier gekommen. Sie enthält viele Bittrufe und Lobgesänge. Mehrstimmig von guten Männerstimmen gesungen, nehmen sie die Gemeinde ganz hinein in die große Freude der Anrufung und Anbetung des gegenwärtigen, dreieinigen Gottes. Die gute Akustik der hohen Kirche gab den klaren, kräftigen Stimmen eine wundervolle Klangfülle. Während dieses geistliche Geschehen, in dem der Raum selbst mitzuschwingen schien, alle Gemüter erhob und verband, erschien von rechts eine Maus. Sie kam irgendwo aus dem rechten Seitenaltar, dem Altar des heiligen Thomas, hervor. Flink und unbeschwert steuerte sie der Mitte zu und schickte sich an, vor der Stufe, die zum Chor führt, zu spielen. Eine spürbare, doch sehr beherrschte Bewegung ging durch die vorderen Reihen der Gemeinde. Es war ein Widerstreit zwischen Belustigung und Erschrecken, zwischen Lachreiz und Angst. Man konnte ja das Schauspiel, das sich bot, unmöglich übersehen. So war da ein aufregender Widerspruch zwischen dem, was die Ohren hörten und dem, was die Augen sahen. Was würde geschehen, wenn das Mäuschen nun plötzlich in den Mittelgang abschwenken und sich in der Verwirrung gar unter die Beine der Kirchenbesucher flüchten würde? - Es war nicht auszudenken! Aber die Maus war eine richtige Kirchenmaus, die wohl wußte, was sich hier ziemt und was hier unangemessen wäre.

LeerZwar hatte sie bald bemerkt, daß da etwas nicht geheuer war. Und wenn ihr die seltsamen Gestalten auf den Bänken durch eine Bewegung zu bedrohlich erschienen, so huschte sie ganz schnell hinter den Läufer, der vom Hochaltar bis zum Schiff herunterreichte und bei der Stufe zum Chor den Schlupfwinkel einer schönen, dunklen Höhle bot. Kaum war sie ein paar Augenblicke in diesem sicheren Schutz, so äugte sie neugierig, bald rechts, bald links, aus ihrem Versteck hervor und wagte sich auch schnell wieder nach der einen und nach der anderen Seite ins freie Gelände, bis die Flucht in die Teppichhöhle wieder geraten schien. Dieses possierliche Spiel hatte offenbar für die Kirchenmaus einen nicht weniger prickelnden Reiz als für ihre andächtigen Zuschauer. Sie trieb es jedenfalls eine ganze Weile mit recht graziösen Sprüngen und Knicksen. Dann verschwand sie plötzlich nach links.

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LeerMan atmete erleichtert auf mit einem stillen Gott sei Dank!, weil die Spannung gelöst, die Gefahr peinlicher Störung beseitigt und alles noch einmal gut abgelaufen war. Aber weit gefehlt! Die Vorstellung war noch nicht beendet. Ein neuer Höhepunkt sollte sogleich folgen. Es dauerte nur Sekunden, bis das kleine Tier von hinten her den linken Seitenaltar erklettert hatte, ihn selbstherrlich betrat und neben Maria ihre Position bezog. Ja, es sah wirklich so aus wie das Beziehen einer mit Bedacht erwählten Position. Von hier aus hatte sie den Überblick über das Ganze - zur Linken im Chor die Sänger, zur Rechten die Gemeinde. Den singenden Würdenträgern zugewandt, verharrte sie eine Weile so, als hörte sie aufmerksam zu. Als sie eben Männchen machte und das Schnäuzchen putzte, entdeckte sie einer der Sänger. Er staunte, sah noch einmal genauer hin und fing an zu schmunzeln. Mit Kopf und Augen winkte er unauffällig den Mitsängern, ihre Aufmerksamkeit dem Altar der Marienklage zuzuwenden. Sie verstanden und schauten, sie wunderten sich und fingen gleichfalls an, einer nach dem anderen, zu schmunzeln, ohne sich von ihren Lobgesängen ablenken zu lassen.

LeerUrplötzlich erschien eine zweite Maus auf dem Altar. Beide spielten nun zu Füßen der Mutter Maria miteinander und lauschten dazwischen wieder dem russischen Chorgesang. Das war wahrlich ein seltenes und seltsames Gegenüber und zugleich ein komisches und köstliches Miteinander: an der geistlichen Kommunion im heiligen Mahl zwischen Christen verschiedener Sprachen, Länder und Kirchen hatten auch zwei Kirchenmäuse in ihrer Weise Anteil. Man fühlte sich an Franziskus erinnert, zu dem die Tiere furchtlos kamen und ihm aufmerksam zuhörten. Und war nicht Christus selbst, wie Markus berichtet, in der Wüste bei den Tieren? - Mein Blick ging hinüber zum Tympanon, zum Schwein, zum Löwen und zum Bock, ob vielleicht auch sie etwas bemerkt hätten von einer heimlichen, demütigen, friedlichen Einheit der ganzen Schöpfung vor ihrem Herrn. Aber davon war nichts zu entdecken. Sie waren noch im Dienst des vergänglichen Wesens, noch nicht befreit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

LeerAls die Eucharistie zu Ende ging, ver schwanden die Tierlein so still, wie sie gekommen waren. Ernst und heiter verließen die Menschen das Gotteshaus. Ich wunderte mich, wie nahe ernste und heitere Erlebnisse beieinander wohnen, ja sich zu einer Einheit verbinden können. Es fiel mir ein, daß jemand den Humor einen Bruder des Glaubens genannt hat. In meinem Herzen aber tönte der Hymnus nach: Heute freut sich und frohlockt jede Schöpfung, daß Christus auferstanden und die Hölle besiegt ist!

Quatember 1973, S. 241-244

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-08
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