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von Jürgen Boeckh |
Wenn auf den Jahresfesten der Evangelischen Michaelsbruderschaft mehr und mehr die Tradition, bei der Agape eine Rede auf die Bruderschaft, auf die Kirche und auf das Vaterland zu halten, abhanden gekommen ist, so liegt das hauptsächlich an dem dritten Thema: Vaterland. Aus Gründen, die zum Teil identisch sind, zum Teil aber auch nicht, ist man zumindest in den beiden restlichen Teilen des Deutschen Reiches von 1937 in Verlegenheit, wenn vom Vaterland die Rede sein soll. Ich erinnere mich jedoch eines Michaelsfestes im Kloster Kirchberg, auf dem der Schweizer Walter Grimmer († 1971) ganz deutlich und bestimmt eine Rede auf das Vaterland - sein Vaterland - hielt. Den anwesenden Brüdern aus der Bundesrepublik Deutschland warf er vor, daß sie aufgrund des Mißbrauchs, der mit dem Begriff Vaterland getrieben worden ist, sich nun der Aufgabe entziehen, zu sagen, was Vaterland heute für sie bedeutet. Kennzeichnend für unsere Situation nach dem Zweiten Weltkrieg (nach dem ersten wäre das noch anders gewesen!) war auch ein Michaelsfest, das die West-Berliner mit den Österreichern im Jahre 1974 gemeinsam in Wien feierten. Damals wurden zwei Reden auf das Vaterland gehalten. In meiner Rede erinnerte ich an Heinrich Heine. In seinen „Reisebildern” berichtet er von einer italienischen Wirtin, die ihn fragt, „ob die Preußen oder die Deutschen siegen werden”. Denn, so fährt Heine fort, „sie hielt erstere für ein ganz anderes Volk, und es ist auch gewöhnlich, daß in Italien unter dem Namen Deutsche nur die Österreicher verstanden werden.” Im Anschluß an dieses Zitat stellte ich die Frage: „Sind Österreicher auch Deutsche?” Darauf gab es leidenschaftliche Diskussionen, die bis über Mitternacht hinausgingen. Als unsere geistlichen Väter und Großväter sich im Jahre 1922 in Angern bei Magdeburg (heute in der DDR) und 1923 in Berneuchen in der Neumark (heute Barnowko in Polen) trafen, war es „die Gesamtlage unseres Volkes, die soziale, die wirtschaftliche, die sittliche, die geistige, die religiöse Not”, die sie zusammenführte, die „zweifache Not der Jugend und der Kirche”. Diese Männer - unter ihnen einige Frauen - gingen von der Erkenntnis aus, „daß die evangelische Kirche dieser Zeitnot nicht nur gegenübersteht, vielmehr als endliche Größe Not und Schuld ihrer Zeit und ihres Volkes an ihrem eigenen Leib trägt.” Diese Sätze stehen im Vorwort des „Berneuchener Buches” (Hamburg 1926), dessen letzter Abschnitt „Evangelisches Werk” die drei Kapitel „Die Heilung des Geschlechts”, „Die Heiligung des Volkes” und „Die Heiligung der Arbeit” enthält. Bemerkenswert ist, daß unsere Väter sich damals schon gegen eine „Heiligsprechung des Volkes” wandten, wie sie sich „in der Überschätzung der naturhaften Bindung an Rasse und Volkstum” ausdrückt. „Die Unterschiede der Rassen werden zu letzten Unterschieden des Wortes; die Merkmale irgendeiner schätzenswerten Rasse, der blonden, der nordischen, der arischen Rasse werden als Merkmale höheren Menschentums gewertet . . . Die Heiligsprechung des Volkes verfälscht die Liebe zum eigenen Volk, zu der Behauptung seiner moralischen Vortrefflichkeit und seiner Überlegenheit über fremdes Volkstum. Daraus erwächst dann jener eitle und unbußfertige Nationalismus, der die eigene Nation dem Gericht Gottes entnimmt.” Hier finden wir bereits eine Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung, die vom Nationalsozialismus aufgesogen wurde und bald ihrem schrecklichen Höhepunkt entgegengeführt werden sollte. Andererseits lesen wir aber auch: „Es gibt keine Heiligung weder des Einzelnen noch des Volkes ohne den Schöpfungsglauben, der die naturhafte Ordnung als eine Gottesordnung erkennt, die einen Sinn hat und Gehorsam fordert. ‚Warum liebst du dein Vaterland?’ ‚Weil es mein Vaterland ist!’” Hier - in diesem Zitat aus dem Katechismus der Deutschen von Heinrich v. Kleist - kommt zum einzigen Mal das „Vaterland” vor. Fünf Jahre nach Erscheinen des Berneuchener Buches wurde die Evangelische Michaelsbruderschaft gegründet. In ihrer Stiftungsurkunde steht ein Satz, der an die eben zitierten Sätze erinnert: Die Brüder „tun im Gebet, Wort und Tat alles, um den Frieden zwischen Ständen und Völkern zu fördern, Haß und Ungerechtigkeit in der Kraft der Liebe Christi zu überwinden.” An anderer Stelle heißt es: „Wir glauben daran, daß den deutschen Kirchen der Reformation ein Beruf verliehen ist an der ganzen Christenheit.” In unserer Urkunde ist also ein übernationaler politisch-sozialer Auftrag ebenso ausgesprochen wie die ökumenische Verpflichtung der „deutschen Kirchen der Reformation”. Das Wort „deutschen” haben wir allerdings vor einigen Jahren in Klammern gesetzt. Bei Verlesung der Urkunde soll es ausgelassen werden. Der Anstoß kam von Brüdern der „außerdeutschen” Konvente in Österreich, der Schweiz und Frankreich, deren Muttersprache zwar Deutsch ist, die aber „Deutschland” nicht als ihr Vaterland ansehen. Als diese Entscheidung gefällt wurde, hatten wir auch schon einige Brüder in unseren Reihen, die weder deutscher Nationalität sind, noch Deutsch als Muttersprache haben. Einen Ansatz zu dieser Entwicklung gab es schon bei der Gründung der Bruderschaft: 20 der Stifter waren in Deutschland geboren und aufgewachsen, einer jedoch, Theodor v. Sicard, war seiner Herkunft nach ein Baltendeutscher und einer Österreicher, Walter Stökl. Im Jahre 1930 war er in die Tschechoslowakei gekommen, wurde dann Reiseprediger des Gustav-Adolf-Werkes mit dem Sitz in Preßburg und von 1936 bis zum Kriegsende war er Pfarrer im mährischen Znaim. Sein Einfluß ging hin bis zu den Siebenbürger Sachsen, die weder als ungarische, noch als rumänische Staatsbürger ihre deutsche Nationalität aufgegeben haben. Stökl, der 1937 an der Weltkirchenkonferenz in Edinburgh teilnehmen konnte (was den Reichsdeutschen verboten wurde!), schrieb damals an einen slowakischen Pfarrer: „Ich glaube immer, es müßte möglich sein, auch in der Tschechoslowakei einmal eine ökumenische Tagung zustande zu bringen, von solchen tschechoslowakischen und deutschen Protestanten, denen es wirklich um die Erneuerung des geistlichen Lebens ihrer Kirche geht; dies alles gäbe auch die einzig mögliche Basis wirklichen politischen Verständnisses.” In der Regel, die am Michaelsfest 1937 in Marburg im Einvernehmen mit Rat und Kapitel von dem damaligen Leiter Karl Bernhard Ritter den Brüdern übergeben wurde, gibt es nur einen Satz, der unser Thema berührt: Es entspricht „den Grundsätzen, die unsere Bruderschaft von Anfang an gehabt hat, daß die Brüder kulturellen oder politischen Vereinigungen nicht ohne Genehmigung der Bruderschaft angehören und ebenso, daß die im Amt der Kirche stehenden Brüder in der Zugehörigkeit zu politischen Parteien die durch ihren geistlichen Auftrag gebotene Zurückhaltung üben.” - „Volk” und „Vaterland” kommen in der Regel der Bruderschaft nicht vor - in einer Zeit, in der „Führer, Volk und Vaterland” im Deutschen Reich, das man damals das „Dritte” nannte, als die höchsten Werte galten. Dieses Schweigen ist sicher auch eine Aussage. Es bedeutet aber nicht, daß unsere Väter sich in jenen Jahren nicht der Frage Ernst Moritz Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland?” gestellt hätten. Damals sangen wir: „Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit...” und „Heilig Vaterland, in Gefahren deine Söhne sich um uns scharen .. .” - dies sogar ein Lied von Rudolf Alexander Schröder! In der Schule hatten wir Hölderlins Ode gelernt „O heilig Herz der Völker, o Vaterland . . .”. Aber sowohl vom Elternhaus her, als auch als junger evangelischer Christ, der zu einem Bibelkreis gehörte, stellte ich mir mit manchen anderen Altersgenossen die Frage: Ist dieses Deutschland - in der Gestalt des „Dritten Reiches” - dein Vaterland? Die Frage war schwer zu beantworten. Und als es um das Soldatsein ging, hieß es: Aber es ist eben doch unser Vaterland! Von diesem „Ja” und „Nein” wurden wir innerlich zerrissen. Wir konnten nicht so „dabei” sein wie die meisten Jugendlichen. Dabei waren wir, als wir in der evangelischen Jugend sangen: „Herr, wir gehen Hand in Hand, Wanderer nach dem Vaterland ...” Dieses Lied von Otto Riethmüller konnten wir aus vollem Herzen mitsingen. Und als ich in einem Kirchenblatt den Vers las „Wer auf die Fahne des himmlischen Königs (statt „des Königs von Preußen”) schwört, hat nichts mehr, was ihm selber gehört”, da fühlte ich mich angesprochen. Wir hatten auch noch, wie die Wandervogelgeneration, Walter Flex′ „Wanderer zwischen beiden Welten” gelesen. Der Titel sagte uns zu, aber den Patriotismus des Theologiestudenten Ernst Wurche, für den der Tod im Sturmangriff das Höchste war, konnten und wollten wir nicht mehr mitvollziehen. Für Deutsche, die Christen waren, aber keine „Deutschen Christen”, war das Vaterland schon vor 1945 fragwürdig geworden. Im übrigen wurde damals viel mehr vom Volk und von der Volksgemeinschaft als vom Vaterland gesprochen. Auch im Sprachgebrauch Adolf Hitlers, des Nicht-Vaters, spielte das Vaterland eine geringere Rolle. Noch kurz vor Kriegsende machte er den Begriff ”Vaterland” verächtlich, im Gegensatz zu dem von ihm hochgeachteten Feind Josef Stalin, der während des Krieges den bis dahin verfemten Begriff („Die Arbeiter haben kein Vaterland”, heißt es im kommunistischen Manifest) wieder zu Ehren brachte und nicht zuletzt dadurch das russische Volk zur Verteidigung der Heimat anspornte. Aber davon wußten wir damals noch nichts. Viele von uns, vielleicht die meisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Gefangenschaft zurückkehrten, hatten die Vereinigten Staaten von Europa vor Augen, auch wenn es nicht das ganze Europa sein sollte. Wir waren enttäuscht, als wir feststellen mußten, daß der Weg nach Europa mit vielen Hindernissen bestückt war. Von der Entwicklung der Sowjetunion her ist es verständlich, daß in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, der heutigen DDR, der Begriff „Vaterland” seit 1945 niemals in der Weise abgetan, ja tabuisiert wurde wie in den Westzonen, der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Während in den ersten Jahren nach dem Kriege jedoch in Anknüpfung an das „Nationalkomitee Freies Deutschland” (mit den Farben schwarz-weiß-rot) im Rahmen der „Nationalen Front” deutsch-nationale Traditionen dienstbar gemacht wurden und so an das Vaterlandsbewußtsein konservativer Kreise appelliert wurde, werden heute andere Töne angeschlagen: „Jede nachwachsende Generation identifiziert sich um so leichter mit dem sozialistischen Vaterland, je engere Verbindungen sie zu seiner Geschichte findet, je bekannter und lebendiger wir ihr die Leistung der Schöpfer unseres Staates, der Erbauer des Sozialismus in der DDR zu machen vermögen ...” (W. Wimmer, Unser sozialistisches Vaterland - Wert und Stolz des Volkes, in Einheit 32/1977, 9, Seite 1106). Aber es wird dort nicht nur von einem „sozialistischen Vaterland” gesprochen. „Wir repräsentieren, um es kurz auszudrücken, im Gegensatz zur BRD das sozialistische Deutschland. Dieser Unterschied ist das Entscheidende.” (E. Honecker, Aus dem Bericht des Politbüros an die 13. Tagung des ZK der SED, S. 17). Diese Worte Honeckers wurden in dem programmatischen Aufsatz „Nation und Nationalität in der DDR” von Alfred Kosing und Walter Schmidt zitiert (Neues Deutschland vom 15./16.2.1975). Dort heißt es zuvor: „Die Bürger der DDR sind in ihrer überwiegenden Mehrheit ihrer Herkunft, ihrer Sprache, ihren Lebensgewohnheiten und ihren Traditionen - kurzum ihren ethnischen Eigenheiten, also ihrer Nationalität nach Deutsche. Die sozialistische Nation in der DDR ist deutscher Nationalität.” In der Bundesrepublik Deutschland hat man sich bemüht, der Jugend ein positives Verhältnis zum Staat anzuerziehen. Bei vielen hat sich aber eine negative Sicht des Staates entwickelt. Junge Menschen sprechen verächtlich von „diesem Staat”. Es fällt ihnen schwer, sich mit ihm zu identifizieren. Zum Staat kann man nur ein rationales Verhältnis haben (der Staat spielte, wie Sebastian Haffner festgestellt hat „in Hitlers politischer Systematik eine ganz untergeordnete Rolle” [Anmerkungen zu Hitler, München 1978, Seite 110] - weil er Irrationalist war!). Ist die Staatsverdrossenheit, ja Staatsfeindlichkeit im Bereich der Bundesrepublik Deutschland vielleicht dadurch gefördert worden, daß für den größten Teil der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsenen Generation dort ein Vakuum besteht, wo früher eine - emotionale - Beziehung zum Vaterland angesiedelt war (die anderswo auch und wieder vorhanden ist)? Wo die Worte aus Heinrich v. Kleist „Katechismus” nicht mehr gelten „Warum liebst Du Dein Vaterland?” - „Weil es mein Vaterland ist” - da muß eine rationale Kritik am Staat, die durchaus angebracht ist, übers Ziel hinausschießen, weil sie nicht durch eine emotionale Bindung in Grenzen gehalten wird. Dazu kommt dann noch die marxistische Lehre vom „Absterben des Staates”, das sich ebenso wie das „Absterben der Religion” mit historischer Notwendigkeit parallel zur Verwirklichung einer vollkommenen, klassenlosen Gesellschaft vollziehen soll. Ein junger Theologe, der das Berneuchener Buch gelesen hatte, bemerkte vor einigen Jahren: Wenn man überall dort, wo vom „Volk” gesprochen wird, „Gesellschaft” einsetzte, dann würde, was damals vor 50 Jahren gesagt wurde, auch heute stimmen. Tatsachlich wird heute mit einem ähnlichen Pathos von der Gesellschaft gesprochen wie seinerzeit zunächst vom Volk und dann, in der Eintopf-Gesellschaft des „Dritten Reiches”, von der „Volksgemeinschaft”. Aber wie damals eine Heiligsprechung des Volkes und Vaterlandes abgewehrt werden mußte, so ist heute einer Heiligsprechung der Gesellschaft zu widerstehen. Diese Heiligsprechung ist für viele weniger erkennbar, da sie nicht in einer religiösen Sprache geschieht. So wie der einzelne Mensch sein Leben auf dieser Erde zu leben hat, bis er abberufen wird, so hat auch ein Volk, solange es noch da ist, nicht das Recht zur Entleibung, zur Selbstaufgabe des Vaterlandes. Man hat der DDR vorgeworfen, daß sie sich aus der deutschen Geschichte herausstiehlt, indem sie die deutsche Schuld nur auf der anderen Seite der Elbe sieht und sich für die Bewältigung der Vergangenheit als nicht-kompetent erklärt (was besonders im Verhältnis zum Judentum gilt, das in erster Linie durch den Staat Israel repräsentiert wird). Diesseits der Elbe (von Bonn aus gesehen) jedoch hat das notwendige Bemühen um die Bewältigung der Vergangenheit in weitem Ausmaß zur einseitigen Identifikation mit den Schattenseiten der deutschen Geschichte geführt. „Die Lust am schlechten Gewissen” (so ein Titel von Helmut Schoeck, Herder-Bücherei Nr. 464) verhindert die Annahme von Vergebung und damit einen echten Neuanfang. Christen, ob in Deutschland, England oder Rußland, in Europa oder Afrika oder Asien, können weder das Volk noch das Vaterland, weder Staat noch Gesellschaft als einen unbedingten Wert ansehen; „sie begehren eines besseren Vaterlandes, nämlich eines himmlischen”(Hebr. 11, 16), aber es gehört zu ihrem Menschsein, daß sie das irdische Vaterland nicht überspringen, denn es ist ein Stück dieser unserer Erde, die wir „zu bebauen und zu bewahren” haben. Quatember 1981, S. 144-151 Zu diesem Beitrag sind Leserbriefe in Quatember veröffentlicht worden |
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