Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1954
Jahrgänge
Autoren
Suchen

Das johanneische Christentum
von Wolfgang Kretschmer

LeerSprechen wir über das johanneische Christentum, so sind wir nicht wenigen Schwierigkeiten und Gefahren des Mißverständnisses ausgesetzt, die uns als Last einer sehr alten religiösen Tradition aufgebürdet sind. Einmal haben wir zu kämpfen mit dem akademischen Urteil der Gelehrten, die sichtlich erleichtert feststellten, die Apokalypse stamme doch nicht von dem Apostel Johannes, sondern sei ein Zeugnis der spätjüdischen Mystik. Zum ändern gelingt es heute kaum, durch eine gewisse sentimentale, in sehr oberflächlich-subjektiven Schichten des Bewußtseins verwurzelte johanneische Liebesromantik hindurchzustoßen zu jener harten Spannung, die uns im Evangelium und in den Briefen des Johannes immer wieder begegnet, um schließlich in der „Offenbarung” am eindringlichsten zu werden. Wie ich glaube, darf man weder mit dem historisch-philologischen Rationalismus die innere Einheit der johanneischen Schriften zerteilen und so ihrer wundersamen Paradoxie und Mannigfaltigkeit entrinnen wollen, noch soll man sie durch kraftlose Gefühlspoesie auflösen und entmächtigen.

LeerIm folgenden sei versucht, am Denken des christlichen Altertums anzuknüpfen, das - wie auch seine legitime Nachfolgerin, die moderne orthodoxe Theologie und Religionsphilosophie - darnach strebt, gemeinsame Wesensstrukturen aus der Bibel und den religiösen Geschichtsperioden herauszuheben. Diese Art des Denkens, welche Verstandesklarheit und Erlebnistiefe verbindet, scheint mir alleine hinzureichen, um dem Kerne des johanneischen Christentums näher zu kommen. Darum gilt in dieser Darstellung die Einheit der johanneischen Schriften, wie sie von alters her in den kirchlichen Ordnungen sich bezeugt.

LeerNicht zufällig ist der Gedanke eines johanneischen Christentums engstens verknüpft mit der Geschichte der christlichen Mystik. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Gnosis der kirchlichen Frühzeit. Er wird dann gewissermaßen klassisch formuliert in der Lehre des Gioachino di Fiore von den drei Reichen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, die ihrerseits zugeordnet sind den Frömmigkeitstypen der heiligen Apostel Petrus, Paulus und Johannes, um schließlich in voller Klarheit bei Schelling und dem russischen Religionsphilosophen Wladimir Ssolowjòw zu erscheinen, wo als dritte Analogie die drei Konfessionen, nämlich die römisch-katholische, die griechisch-katholische und die protestantisch-evangelische hinzukommen. Es ist bezeichnend für diesen geistigen Entwicklungsstrom, daß die Wertbetonung stets auf dem dritten Geschichtsabschnitt, also dem johanneischen Reich des Geistes liegt. Damit haben wir schon zwei wichtige Kennzeichen im Selbstverständnis des johanneischen Christentums vor uns: es fühlt sich bestimmt durch die Merkmale des Heiligen Geistes, also pneumatisch, und es fühlt sich endzeitlich, eschatologisch, apokalyptisch.

Linie

LeerSoll die meiner Überzeugung nach überaus wichtige Frage des johanneischen Christentums im heutigen kirchlichen Leben fruchtbar werden, so müssen wir zunächst auf die hochinteressante und vielfach großartige Vorarbeit zurückblicken, die in der Zeit der deutschen Romantik und des deutschen Idealismus geleistet worden ist. Denken wir noch einmal daran, daß gerade die Mystiker, das heißt Menschen, die sich in das Geheimnis der Existenz versenken, immer wieder dem johanneischen Geiste sich nahe fühlten, so werden wir uns kaum über die innere Beziehung der romantischen Frömmigkeit zu Johannes wundern. War doch die Romantik zu allermeist um die innersten Geheimnisse der Seele bemüht. Zudem kamen die großen religiösen Künder ihrer Zeit Novalis und Schleiermacher von den Erfahrungen der pietistischen Mystik her. Die romantische Religiosität zeigt uns drei typisch mystische Merkmale, deren Verwandtschaft mit den Aussagen der johanneischen Schriften uns später vollends klar werden wird: die Erlebnisnähe des Göttlichen, der Liebesimpuls mit dem Sinn für die brüderliche Gemeinschaft alles Geschöpflichen, die Sehnsucht nach dem Geiste als dem Quell prophetischer Erleuchtung. So findet Schleiermacher in dem Sinn für das Unendliche die gemeinsame Wurzel alles religiösen Lebens. Novalis sieht vor sich eine „große Versöhnungszeit”, das „große Liebesmahl”, den „alles umarmenden Geist der Christenheit”, den „allgemeinen christlichen Verein”, durch welchen und in welchem allein die echte dauernde Wiedergeburt möglich ist. Die Kirche wird „Vermittlerin der alten und neuen Welt”. Und Schelling weiß: „Die Liebe ist Gott selbst, der eigentliche Gott.” „Auch das Wesen der Seele also ist Liebe, und Liebe auch das Prinzip alles dessen, was aus der Seele entsteht... Der Mensch, der zum Philosophen geboren ist, empfindet dieselbe Liebe in sich, welche die Göttliche empfindet, nämlich die ausgestoßene und ausgeschlossene Natur nicht in dieser Verstoßung zu lassen, sie geistig wieder im Göttlichen zu verklären und das ganze Universum in Einem großen Werk der Liebe zu verschmelzen”. Die Kirche ist die Anstalt „einer inneren oder Gemütseinheit”. Sie darf die Grundsätze politischer Macht nicht in sich eindringen lassen. Denn „das Wahre und Göttliche soll einmal nicht durch äußere Gewalt gefördert werden”. Der Vollendung der Schöpfung geht voraus „das Regiment des Geistes”. Johannes aber „ist ... der Apostel der zukünftigen, erst wahrhaft allgemeinen Kirche, jenes zweiten, neuen Jerusalem ... die ohne drückenden Zwang, ohne äußere Autorität ... durch sich selbst besteht, weil jeder freiwillig herbeikommt, jeder durch eigne Überzeugung, indem sein Geist in ihr eine Heimat gefunden, zu ihr gehört”.

LeerWenn wir uns den johanneischen Schriften zuwenden, so müssen wir vorher auf das heutzutage sehr verbreitete Hemmnis achten, welches sich ihrem mystischen Verständnis entgegenstellt. Als ich erstmals gewahr wurde, daß Bultmann den theologischen Bildersturm seiner „Entmythologisierung” gerade mit dem Johannesevangelium rechtfertigt, war ich sehr erstaunt. Es wurde mir daran klar, wie sehr zweideutig der religiöse Spiritualismus verstanden werden kann. In der Tat läßt sich die geistig-religiöse Existenz des Menschen komprimieren auf jenen kraftvollen Mittelpunkt der intellektuellen und sittlichen Potenz des Bewußtseins, auf jenes Ich-bin und Ich-soll. Kein Gläubiger lebt ohne dieses Zentrum, natürlich auch Johannes nicht. Aber wir fragen uns, ob dieser verstandesmäßige Spiritualismus wirklich alles umfaßt. Müssen nicht die johanneischen Ideen des „Geistes”, der „Liebe”, der „Verklärung” zu entleerten Hüllen werden, die uns ferne Ziele ahnen lassen, ohne daß wir je etwas von ihnen in uns erleben dürften? Wo stammen denn die Kräfte her, die aus dem bewußten Mittelpunkt des menschlichen Ich hervorquellen? Der rationalisierte Johannes beschreibt den gläubigen Menschen gleichsam so, wie wenn man von einer Kirche nur den Altar (oder gar nur die Kanzel?) beschriebe.

Linie

LeerGewiß trug der Apostel Johannes in der alten Kirche (gleichermaßen in der heutigen östlichen Orthodoxie) den Beinamen „der Theologe” und galt demnach als großer Denker. Aber denken heißt in der Vätertheologie weniger abstrahierend vom Gegenstand weggehen (wie im theologischen Rationalismus der Neuzeit), als vielmehr mit dem Gegenstand denken, den Gegenstand denkend im Herzen bewahren als innere Erfahrung. Man kann, so meine ich, das „Johanneische” im Kerne nicht als rationalistischen, sondern nur als pneumatisch-mystischen Spiritualismus verstehen. Der so ungriechische fleischgewordene Logos der Vorrede des Johannesevangeliums ist nicht ein abstraktes natürliches oder sittliches Ordnungsprinzip, ein abstrakter Urwille der Welt, vielmehr die persönliche schöpferische Kraft, die trennend und einend alles hervorbringt, trägt und vollendet. Der Logos ist Pneuma. Er setzt Widersprüche und verbindet sie auf rechte Weise zur Synthese. Auf der menschlichen Ebene bedeutet dies, daß der vom Logos Ergriffene Geist und Stoff, Intellekt und Gefühl, Geheimes und Sichtbares, Einheit und Vielheit schöpferisch zusammenfügt. In der „Seele” (wohlgemerkt nicht in der frommen Sentimentalität) findet er die Mittlerebene, wo und von wo aus er gnadenhaft das Werk der Verschmelzung vollziehen darf. Im Johannesevangelium ist dieser mystische Schlüssel darin zu finden, daß das Einigungswerk der Liebe anhebt mit der „Hochzeit” und dem damit verbundenen Wandlungsgeheimnis. Hochzeit ist Inbegriff der Synthese. Es ist auch gewiß kein Zufall, daß die mystische Legende des Gral gerade an einer Stelle des Johannesevangeliums anknüpft (19, 34). Meint doch der Gral wiederum das rechte Gefäß, das die Seele werden muß, um den göttlichen Geist aufzunehmen: das innerste Problem jeder Mystik.

LeerDas Empfangen des Geistes setzt offenbar voraus, daß die Seele weiblich-kindlich beschaffen sei. Darum wird der Apostel Johannes seit alter Zeit auch in der orthodoxen Kunst, als einziger Jünger ohne Bart dargestellt. So kommen wir zu der Gestalt des Johannes selbst, wie sie in dem nach ihm benannten Evangelium erscheint. Johannes ist der Jünger, „den der Herr lieb hat”. Er scheint zu jenen geistlichen Gestalten zu gehören, die seit dem „gerechten Knaben Abel” ein kindlich-gnadenhaftes Verhältnis der Gottunmittelbarkeit besitzen, ohne „Mühe und Arbeit”, ohne „Verdienst”. „Seinen Freunden gibt Er's schlafend.” Dies könnte uns nicht anschaulicher gezeigt werden als im Bilde des an der Brust des Herrn ruhenden Jüngers. Johannes ist dem Herzen, der „Seele”, dem Geheimnis Christi nahe.

LeerWer den Geist aufnimmt, nimmt teil an der Verklärung. In zwei Weisen schildert uns Johannes, wie die Existenz des Menschen durch den Geist verklärt wird: einmal durch die Liebestat, zum andern durch die prophetische Schau der Erlösung der Welt. Beide kann man nur an der Grenze der menschlichen Existenz, im Eschaton und darum auch nur mystisch erfassen.

LeerJohannes vermag deshalb so eindringlich von der Liebe zu reden ( „Gott ist die Liebe”; „Wir lieben die Brüder”), weil er persönlich erfahren hat was die Welt innerlich verbindet und versöhnt. Diese Liebe geht wirklich hinein in die großen Dimensionen des Daseins und umfaßt nicht nur die „nächsten” Personen. So würdigt Jesus den Glauben der heidnischen Frau (Joh. 4, 23-26). Er ist für Johannes der „Retter des Kosmos” (Joh. 4, 42; 1. Joh. 4, 14). Auch der „Geist” ist kosmisch (Joh. 3, 8), denn er „blaset wo er will”. Am vollkommensten stellt uns die Erzählung der Fußwaschung den Vorrang des Liebesdienstes vor Augen. Die Erniedrigung birgt den Keim erhöhter Verklärung in sich. Handelnd wirkt die Liebe des Geistes in der Welt.

Linie

LeerMan kann allerdings die „Fußwaschung” und mit ihr den Liebesimpuls nicht vom Kultus trennen: jenseitige Kraft wird diesseitiges Geschehen. Gottesdienst und Menschendienst fließen zusammen. Die Liturgie bildet nach alter kirchlicher Anschauung die tragende Mitte zwischen geistlicher Erkenntnis und Liebeshandeln. So haben auch manche mystische Bewegungen bis in unsere Zeit hinein das kultische Liebesmahl in besonderer Weise mit Johannes verknüpft.

LeerSchließlich gipfelt das johanneische Liebesstreben in der Sorge um die Einheit der Menschheit: „Auf daß sie alle eines sein” (Joh. 17, 21). Der Mystiker hat den rechten Blick für die Einheit, da er durch die innere Erfahrung lernt, die Gegensätze des Daseins fruchtbar zu verbinden und das „Band beider Welten” - um mit Schelling zu reden - zu finden. Die heutige Religionswissenschaft zeigt uns denn auch klar, daß die mystischen Religionen ungleich toleranter sind als die rationalisierten, missionarisch aktiven Offenbarungsreligionen. Hier könnte Johannes tatsächlich eine Brücke bilden. Die Einheit ist der Fels, auf dem die Kirche ruht oder an dem sie zerbricht.

LeerDer verklärende Geist erleuchtet das Bewußtsein der Gläubigen zu prophetischer Schau. In der „Offenbarung” geht uns diese Seite der johanneischen Frömmigkeit vollends auf. Sie zeigt uns aber auch die große Bürde, die den Erleuchteten auferlegt ist. In die Tiefe blicken heißt die unerbittlichen Gegensätze der menschlichen Existenz, die schauerlichen Gefahren des Heilsweges in härtester Weise erkennen. Vor uns steht das apokalyptische Entweder-Oder, das bittere Erwählt- oder Verworfensein. Nicht nur umsonst, gleichsam im Schlafe, wird die Gnade erworben, sondern ebenso im fruchtbaren persönlichen Kampfe. Dieses paradoxe „Ebenso” können wir kaum fassen, kaum ertragen. Auch die alte Kirche hat jahrhundertelang gezögert, bis sie die Apokalypse in den Kanon der Heiligen Schrift aufnahm. Bevor dies geschah, war der liturgische Leseplan schon fertig. So ist es gekommen, daß die östliche Orthodoxie noch heute die „Offenbarung” nicht in der Perikopenordnung hat. So schwer läßt sich der „andere Johannes” ertragen! Vielleicht mag es unserem Verständnis ein wenig helfen, wenn wir uns die berechtigte Frage Romano Guardinis zu eigen machen, ob Johannes nicht darum so viel von der Liebe spreche, weil ihm selber die Liebe so schwer geworden.

LeerDie johanneischen Gedanken muten uns nichts weniger zu, als den alles verbindenden kosmischen Liebesgeist in eines zu sehen mit dem Geiste der Krisis, des Gerichtes. Dies bleibt zu allen Zeiten die härteste Aufgabe der Kirche. Darum aber darf sich auch keine historische Konfession rühmen, den johanneischen Geist ganz und allein zu verkörpern. Hinzu kommt, daß nur die Gemeinschaft sich Kirche nennen darf, die alle erwähnten drei Prinzipien in sich darzustellen sucht. Dennoch ist es durchaus sinnvoll, wenn einzelne Gemeinschaften sich vorzüglich dem einen oder anderen Typus unterordnen. Nach meiner persönlichen Erfahrung gibt es nur zwei solcher Gemeinschaften, denen man die enge Verwandtschaft mit dem johanneischen Christentum gleichsam auf den ersten Blick ansieht. Im Westen sind es die Quäker, im Osten ist es die Orthodoxe Kirche.

LeerNur bei den Quäkern habe ich es erlebt, daß Menschen sich auf die Bibel berufen und doch mit dem Geltenlassen des Anderen völlig ernst machen. Die Wurzel dieses echten Gemeinschaftssinnes liegt nicht in einem aufklärerischen Kosmopolitismus, sondern wiederum in der mystischen Innenerfahrung menschheitlicher Bruderschaft, sich stets erneuernd im schweigenden Sichversenken der andächtigen Gemeinde. Das Quäkertum schöpft seine Ideen aus der reformatorischen Erweckungsmystik und aus den Quellen jener mittelalterlichen „Ecclesia spiritualis”, die uns Ernst Benz so nahe gebracht hat.

Linie

LeerWladimir Ssolowjòw läßt in seiner Erzählung vom Antichristen die Orthodoxe Kirche vertreten sein durch den Bischof Johannes. Dieser wird geschildert als ein von geheimnisvollen Legenden umgebener, lebensvoller und „rührend gütiger” Greis. Er verkörpert die Gestalt des ewigen liebenden Vaters, gleichsam ohne Ursprung und den Kosmos durchwaltend: „zu allen Zeiten und in allen Weltrichtungen stets auf der Wanderung” (Joh. 21, 22). Im „Geiste der Unterscheidung” entlarvt er den Antichrist und führt die Konfessionen zur endzeitlichen Einheit.

LeerMag das Bewußtsein einer besonderen Zugehörigkeit der Orthodoxie zur Tradition des Johannes vor Ssolowjòw schwächer als nachher gewesen sein, wir können doch den tatsächlichen Zusammenhang leicht nachweisen. Der Vorname Iwan (= Johannes) ist nicht nur bis in die bolschewistische Zeit hinein am meisten verbreitet in Rußland. Hervorragende Träger des Namens begleiten und markieren grundsätzlich die Geschichte der ganzen Orthodoxie. Erich Seeberg bezeichnet den hochbetagten, in Kleinasien sitzenden Apostel Johannes als den ersten „Patriarchen” der östlichen Kirche. Johannes Chrysostomus festigt entscheidend die kultische Tradition und bezeichnet den sakramentalen Gottesdienst als „unsichtbares geistliches Theater”. Johannes, der Damaszener, verteidigt die heiligen Bilder als Zeugnis der fortwährenden Fleischwerdung des Logos. In jüngster Zeit vor der russischen Revolution kämpft Johannes von Kronstadt unermüdlich für die soziale Hilfe, widmet der „Göttlichen Liturgie” schöne Betrachtungen und beweist so die innere Verbindung von Kultus und Liebesdienst.

LeerAm meisten unter allen Konfessionen bezeugt die orthodoxe Kirche die Wirklichkeit der Verklärung der erlösten Welt (Joh. 17, 10). Wie leibhaftig dies genommen wird, zeigen uns viele liturgische Gesänge und Gebete: Im täglichen Morgengebet bildet schon eine Stelle des 51. Psalmes den Schlüssel - „Deine heimliche Weisheit hast Du mir gezeigt. Besprenge mich mit Hysop und ich werde rein, wasche mich und ich werde weißer als Schnee ...” Dies wird ebenso christlich verstanden wie „vom Schlafe aufgestanden fallen wir vor Dir nieder, Seliger, und singen Dir Starker das Lied der Engel”. Auch der auf Maria bezogene Jubel über die erlöste Welt und Menschenseele gehört hierher. „... Du bist ehrwürdiger als die Cherubim und ohn' Maßen herrlicher als die Seraphim...” Die spürbare Gegenwart der verklärten Welt durchdringt das Gebet zu den „Heiligen, Fleischlosen Kräften”, den Engeln: „Ihr Führer der himmlischen Heere, wir Unwürdige bitten Euch immer, Ihr möget uns bewahren mit Eurem Beten als mit dem Schütze der Flügel Eurer stofflosen Herrlichkeit.” Beim Abendmahl singt die Gemeinde: „Die wir geheimnisvoll die Cherubim abbilden.” Und an Ostern heißt es: „Pascha öffnet uns die Pforten des Paradieses, Pascha erleuchtet alle Gläubigen.”

LeerDer kosmische Geist allumspannender Liebe trägt jene Verklärung. Christus wird in echt johanneischer Weise immer wieder gepriesen als Herr des Kosmos, als Erlöser des All. Desgleichen versucht das orthodoxe Gebet stets aufs neue alle trennenden Grenzen der Existenz zu überwinden. Auch der Geist des Gebetes weht „wo er will”. So betet man in der Messe „Für Alle und Jeden”. Der Mensch soll die ganze Fülle der Heilsmysterien erinnern. Darum bringt die Gemeinde das Opfer „all dem gemäß und um all dieses willen”. Kein Gottesdienst, in dem nicht um die „Vereinigung aller” Kirchen gebetet würde. Ja selbst des Feindes wird gedacht, damit die Schöpfung ungeteilt bliebe. „Rette und nimm an, Herr, die, so mich hassen, mich beleidigen und mir nachstellen, und laß sie nicht umkommen um meinetwillen, des Sünders” (Tägliches Morgengebet der Gemeinde). All dies ist aber beschlossen in dem vor dem Glaubensbekenntnis der Messe gesungenen „Lasset uns einander lieben...”

Linie

LeerNicht nur im Liebesruf, sondern auch in der prophetischen Schau finden wir einen entscheidenden Grundzug der orthodoxen Frömmigkeit. Sie knüpft bereits an der großen „Anschaulichkeit” alles orthodoxen Lebens an: Die heiligen Bilder und die gegenüber dem Westen ungewöhnlich reiche poetische Entfaltung des Glaubensgutes. Wir haben allen Grund, uns zu erinnern an die große Bedeutung, die Romantiker wie Novalis und Schelling der Poesie, der künstlerischen Anschauung und der Vision als Mittlerin jenseitiger Wahrheit zumaßen, aber auch an die Rolle der poetischen Sprache bei Martin Heidegger. In. der orthodoxen Welt haben bis in unsere Zeit hinein gerade auch die einfachen Gläubigen häufig visionäre Glaubenserfahrungen gesammelt, die großen Geister immer wieder hineingeschaut in apokalyptische Tiefen und Abgründe und uns gewaltige mahnende und richtungweisende Gemälde hinterlassen, denken wir nur an Dostojewskij und Ssolowjòw.

LeerMehrfach sind innerhalb der offiziellen Orthodoxie Bewegungen aufgebrochen, die sich für ein persönlich-mystisches Christentum der Liebe ohne Zwang der Organisation und der Dogmen einsetzten und darum auch dem Kultus und der kirchlichen Institution entgegentraten. Ihre Bestrebungen zeigen in vielem Ähnlichkeit mit entsprechenden Impulsen protestantischer Erweckungsmystik während und nach der Reformationszeit. Zurückblickend erscheint uns aber die echte und erfüllte Form der Orthodoxie gewiß nicht weniger johanneisch als jene stürmischen geistlichen Aufbrüche, die eine Seite der johanneischen Geistesfreiheit einseitig hervorkehrten und zum absoluten Maßstab machten. Offenbar müssen sich beide Daseinsweisen der Kirche gegenseitig ergänzen und erneuern.

LeerGewiß hat die orthodoxe Welt auch gröblich gegen ihr johanneisches Prinzip geistlicher Transparenz und Liebe verstoßen durch die Härte der russischen Kirchenreformkämpfe im 17. Jahrhundert, durch die nationalen und kirchlichen Gegensätze der jetzigen östlichen Emigration und vor allem durch den großen Raum, der im Verlaufe der Geschichte dem Antisemitismus gelassen wurde. Und doch trugen die orthodoxen Völker das herbe Paradoxon des johanneischen Christentums am meisten. Es ist ausgespannt zwischen der gnadenhaften Existenz des reinen Toren und dem inmitten der Gegensätze des Daseins zerrissenen Menschenherzen. So hat es uns Dostojewskij unvergleichlich geschildert als heilig-furchterregendes Vermächtnis der osteuropäischen Welt, die immer dem „Ende” nahe ist, auch heute.

Quatember 1954, S. 141-147

Siehe auch
Wilhelm Stählin - Petrus und die Petriner
Hans Grünewald - Grenzen des Paulinismus
Erich Müller-Gangloff - Drei Kirchen und Vier Zeiten

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
Haftungsausschluss
TOP