Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1973
Autoren
Themen
Stichworte

Gottesdienst - im Namen der Welt?
von Jürgen Boeckh

LeerIn drei Aufsätzen wurden hier von Gisela Schmidt die theologischen Grundgedanken der Studie „Die Kirche für andere” (Genf 1967) kritisch betrachtet. Dabei wurde immer wieder das Berneuchener Buch (Hamburg 1926) zum Vergleich herangezogen. (Teil 1 / Teil 2 / Teil 3)

LeerIn diesem letzten Aufsatz geht es nun um die Frage: Wie ist die Stellung der beiden, ein Menschenalter auseinanderliegenden Reformschriften zum Gottesdienst? Diese Frage liegt darum besonders nahe, weil die Berneuchener von einem großen Teil derer, die überhaupt um ihre Existenz wissen, lediglich als „Liturgiker” bekannt sind, obwohl das Berneuchener Buch keineswegs den Gottesdienst allein im Auge hat. Die Kritik dieser Reformschrift betraf, um es mit einem heutigen Begriffspaar auszudrücken, Kirche und Gesellschaft. Kirche und Volk zu sagen, wäre zu wenig, denn neben dem Kapitel „Heiligung des Volkes” finden sich, am Ende des Buches, die beiden anderen Kapitel zur „Heiligung des Geschlechts” und zur „Heiligung der Arbeit”.

LeerDas ganze Buch enthält nur einen Abschnitt, der unmittelbar vom Gottesdienst handelt: „Der Kultus”. Dies schließt jedoch nicht aus, daß auch an anderer Stelle immer wieder auf den Gottesdienst Bezug genommen wird, besonders in den Kapitel „Gottes Wort wird zum Buch” und „Der Formwille der Kirche verkümmert”. Wo es im Berneuchener Buch um den Gottesdienst (zu dem selbstverständlich auch die Predigt gehört) geht, wird jedoch niemals die Liturgie unabhängig von der Theologie und von der Situation des Menschen behandelt. Mag es Berneuchener gegeben haben oder auch geben, die nur die „Form” im Auge haben: Den Verfasser des Berneuchener Buches ging es auf jeden Fall um mehr als um „Gottesdienste in neuer Gestalt”.

LeerIn der Genfer Studie „Die Kirche für andere” trägt einer der acht Hauptabschnitte die Überschrift „Vernünftiger Gottesdienst”. Der Abschnitt „Reform und Erneuerung” enthält außerdem ein Kapitel über „Vielfalt gottesdienstlicher Formen”, und in den „Empfehlungen” am Schluß der Studie werden als „praktische Schritte der ‚Kirchen in Mission’” aufgezählt: Analyse und Dialog, zonale Strukturen, Gottesdienst und Schulung. Es ist vielleicht nicht nebensächlich, daß „Gottesdienst” hier inmitten einer neuen Terminologie der einzige überkommene Begriff ist. Auch von „Schulung” hörten wir früher nur in anderen Zusammenhängen. Das am Ende der Studie formulierte Ergebnis im Blick auf den Gottesdienst soll hier im Wortlaut wiedergegeben werden:
„Wir empfehlen, die Kirchen zu folgendem aufzufordern:. ..
1.   Die Notwendigkeit einer laufenden und radikalen Revision aller Formen des öffentlichen Gottesdienstes anzuerkennen.
2.   Zum Gebrauch moderner Bibelübersetzungen im Gottesdienst zu ermutigen.
3.   Die Verwendung moderner Musik und Kunstformen zu fördern.
4.   Die gegenwärtige Taufpraxis zu überprüfen, weil die Taufe zum Teilhaber am Geist und damit zum Teilnehmer an der Mission Gottes macht.
5.   Sicherzustellen, daß das Herrenmahl - in dem nicht nur das Wort verkündigt und das Sakrament empfangen wird, sondern auch die Möglichkeit des Dialogs besteht - zur Norm des Gottesdienstes wird.
6.   Die kirchliche Baupolitik zu überprüfen und dabei besonders
  a) zu untersuchen, in welchem Ausmaß die Notwendigkeit, riesige vorhandene Gebäude zu unterhalten, den missionarischen Vorstoß beeinträchtigen;
  b) darauf zu achten, daß neue Gebäude dem Ziel entsprechen, der der Kirche in ihrer Mission heute dienlich ist;
  c) zu untersuchen, wie weit provisorische und vorübergehende Gebäude bzw. wie weit überhaupt keine Gebäude bereitgestellt werden müssen.”

LeerWer diese Thesen liest, hat auf den ersten Blick den Eindruck: was hier erstrebt wird, das entspricht, aufs Ganze gesehen, dem, was vor 40 Jahren bereits im Berneuchener Buch gefordert wurde. Berneuchener, nicht nur Glieder der Evangelischen Michaelsbruderschaft, haben in ihrem Bereich - mit mehr oder weniger Erfolg - versucht, Erkenntnisse dieser Art in die Praxis umzusetzen. Unsere nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen kirchenamtlichen Agenden sind auch von Berneuchenern auf Grund ihrer Erkenntnis von der Notwendigkeit einer laufenden (allerdings wohl nicht im Sinne der Studie „radikalen”) Revision aller Formen des öffentlichen Gottesdienstes direkt oder indirekt mitgestaltet worden. Die Evangelische Michaelsbruderschaft hat darüber hinaus ihre eigenen Gottesdienstordnungen häufiger revidiert, als dies, verständlicherweise, in den „Landeskirchen” geschehen ist. Eine Form der im Hause zu feiernden „Tischmesse” etwa wurde in Karl Bernhard Ritters liturgischem Abschlußwerk „Die Eucharistische Feier” (Kassel 1961) der Öffentlichkeit vorgestellt und war bereits vorher in Kreisen der Bruderschaft gefeiert worden.

LeerDaß Gottesdienst „nicht notwendig auf Kirchengebäude begrenzt” ist, wie es einmal in der Studie heißt, haben die Berneuchener - bei aller Hochschätzung des gestalteten Raumes - auch immer gewußt (eine Kritik der überkommenen Kirchengebäude findet sich z. B. in einer der Werkschriften der Berneuchener Konferenz: K. B. Ritter, Der Altar, Schwerin 1930). In der Empfehlung der Studie, zum Gebrauch moderner Bibelübersetzungen im Gottesdienst zu ermutigen, liegt auch, wie aus einem der Kapitel hervorgeht, die Forderung nach „Verständlichkeit”, die schon Paulus im 1. Brief an die Korinther (14, 9.16. 25) ausgesprochen hat. Hier überbietet das Berneuchener Buch sogar die Studie, wenn es (unter der Überschrift „Gottes Wort wird zum Buch”) „die Befreiung vom Buchstaben der Vergangenheit, die Befreiung, die die Kirche immer wieder schuldig blieb”, fordert, und daß nicht nur im Blick auf den „Außenseiter”, sondern ebenso mit Rücksicht auf die „normale” Gemeinde!

Linie

LeerDie Empfehlungen, „sicherzustellen, daß das Herrenmahl . . . zur Norm des Gottesdienstes wird”, deckt sich nicht nur mit einer Forderung des Berneuchener Buches; die Kreise des Berneuchener Dienstes und die Konvente der Evangelischen Michaelsbruderschaft haben tatsächlich das Herrenmahl in den Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens gestellt und dazu beigetragen, daß hier und dort in den Gemeinden die protestantische „Winkelmesse” durch Abendmahlsgottesdienste der Gemeinde ersetzt wurde.

LeerBei der Einführung der Nachkriegsagenden hat sich allerdings gezeigt, daß dieses Anliegen der Berneuchener, das sich mit den Bestrebungen mancher anderer Kreise verband und auch durch die Erfahrungen der Bekennenden Kirche in Zeiten besonderer Not zunächst gefördert wurde, von der Mehrzahl der Gemeinden nicht aufgenommen, ja nicht einmal verstanden worden ist. Die Frage, nach welcher Melodie das „Herr, erbarme dich!” zu singen sei, erschien vielen wichtiger als die Wiedergewinnung des Hauptgottesdienstes mit Predigt und Abendmahl!

LeerDie Genfer Studie, die allerdings nicht nur den deutschsprachigen Bereich im Auge hat, spricht nun also nach vierzig Jahren noch einmal die gleiche Empfehlung aus wie das Berneuchener Buch: Das Herrenmahl soll aus seinem Winkeldasein befreit werden. Wir stellten fest: Auf den ersten Blick entsprechen die Empfehlungen der Studie und die Forderungen des Berneuchener Buches einander. Bei genauerem Hinsehen werden allerdings auch Unterschiede deutlich. Diese Unterschiede beziehen sich in erster Linie auf die Begründungen, die in den „Empfehlungen” - im Unterschied zum Gesamttext der Studie - nur andeutungsweise deutlich werden.

LeerAls Begründung für das Herrenmahl im Gottesdienst der Gemeinde ist doch offenbar die Bemerkung zu verstehen, daß in diesem Mahl „nicht nur (!) das Wort verkündigt und das Sakrament empfangen wird, sondern auch die Möglichkeit des Dialogs besteht”. Auf der „Möglichkeit zum Dialog” liegt offenbar für die Verfasser der Studie das Hauptgewicht. Welcher Dialog ist gemeint? Der Dialog, den Martin Luther darin sieht, „daß unser lieber Herr mit uns rede durch sein hl. Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang”, das Geschehen des heiligen Mahles, das sich aus den Worten der Einsetzung in der eucharistia vom Gruß des Liturgen bis zum Vaterunser der Gemeinde entfaltet?

LeerWenn man die Studie durchgeht, muß man zu dem Schluß kommen, daß dieser Dialog nicht gemeint ist. Gemeint ist der Dialog zwischen den Menschen, die das Abendmahl halten. Als Begründung für das Herrenmahl als Norm des Gottesdienstes reicht das jedoch nicht aus. Damit soll nicht bestritten werden, daß auch innerhalb einer Abendmahlsfeier, besonders wenn sie im kleinen Kreis stattfindet, ein Gespräch der „Tischgenossen” angemessener sein kann als die Predigt eines einzelnen. Es stellt sich die Frage, ob denn aus der Studie als ganzer eine tiefere Begründung für die Feier des Herrenmahles zu finden ist. Das ist nicht der Fall. Das Abendmahl wird im gesamten Text nur zweimal beiläufig erwähnt.

Linie

LeerIn Kapitel V „Vernünftiger Gottesdienst” lesen wir: „Die Einsetzungsworte beim Herrenmahl wurden formuliert und verstanden im Zusammenhang einer drohenden Gemeinschaftskrise unter Christen (1. Kor. 11).” Wie vieles in der Studie, ist auch diese Aussage nur halb richtig. Die paulinische Überlieferung der Einsetzungsworte ist nicht die einzige; hier aber wird - wenigstens für Nichttheologen - der Eindruck erweckt, also ob Paulus „aus gegebenem Anlaß” die Einsetzungsworte überhaupt erst formuliert habe!

LeerEine andere Stelle ist in diesem Zusammenhang noch aufschlußreicher. Im III. Kapitel „Gott und die Welt” heißt es unter der Überschrift „Gott wandelt unter den Menschen”: „Die Kirchen dienen der missio Dei in der Welt, wenn sie auf dem Boden der Offenbarung auf Gottes Wirken in der Weltgeschichte hinweisen. Predigt, Taufe und Herrenmahl, Gebet, Gemeinschaft und Zeugnis sind nicht Instrumentarium klerikaler Selbstbewahrung, sondern Wegweiser dafür, in welcher Richtung Gott letztlich die Welt führen wird. Sie sind deshalb unentbehrliche Mittel, um die Kriterien zu finden, mit deren Hilfe Gottes Handeln in den gesellschaftlichen Ereignissen zu entdecken ist, aber ohne Teilnahme an diesem Handeln können sie ihrerseits kaum begriffen werden.”

LeerHier werden sehr verschiedene Lebensäußerungen der Gemeinde und des einzelnen Christen „über einen Kamm geschoren”. Sie alle, einschließlich des Herrenmahles, sollen also dazu dienen, „Gottes Handeln in den gesellschaftlichen Ereignissen zu entdecken”. Sie werden damit klar und deutlich als Mittel zum Zweck angesehen. Man hat den Eindruck, daß vom Gottesdienst überhaupt nur gesprochen wird, weil er nun einmal da ist. Die „Natürliche Theologie” der Studie braucht im Grunde keinen Gottesdienst, da die Offenbarung in den Bereich der ganzen Geschichte verlegt ist und dort von jedem vernünftig denkenden und handelnden Menschen erkannt werden kann.

LeerDas Berneuchener Buch sieht das Herrenmahl nicht als die einzig mögliche Form des Gottesdienstes an. Es wendet sich sogar gegen „das Ideal der Vollständigkeit in einem Gottesdienst, in dem alle verschiedenen und möglichen Haltungen zusammengepackt werden”. Aber das Herrenmahl wird doch „als der eigentliche freudige Höhepunkt alles gottesdienstlichen Lebens” bezeichnet: „Hier ist nicht mehr der fehlsame und oft nur an Worten reiche Mund eines menschlichen Predigers, sondern die naturhafte Gabe Gottes in Brot und Wein zu dem Werkzeug der Verkündigung geworden. Hier steht die Gemeinde anbetend vor ihrem Herrn und richtet sich aus auf die ewige Vollendung; hier wird die Gemeinde, in der einer dem anderen das Brot bricht und reicht, selbst zu einem Gleichnis und zu einer Verheißung für die in Christus begründete Einheit, und das Alltägliche selber, Essen und Trinken, wird zum verbum visibile.”

LeerNach dem Berneuchener Buch ist die Gemeinde in ihrem Gottesdienst Gleichnis für eine Wirklichkeit, die unseren Ohren und unseren Augen grundsätzlich verborgen ist, nicht aber Mittel zum Zweck der Erreichung einer vollkommenen Gesellschaft. Für die Verfasser der Studie kommt die Gemeinde wohl von Jesus Christus her (nur von dem Menschen Jesus - oder von dem unsichtbaren Gott, der durch diesen Menschen zu uns spricht?), aber es wird nicht deutlich, daß sie auch heute „vor ihrem Herrn steht” und sich auf die ewige Vollendung ausrichtet!

Linie

LeerMehrfach wird im Berneuchener Buch darauf hingewiesen, daß es nicht eine sakrale und eine profane Sphäre als zwei verschiedene Teile der Wirklichkeit gibt. Auch hier scheint - auf den ersten Blick - die Studie das gleiche zu sagen; aber eben wieder nur auf den ersten Blick! Denn im Berneuchener Buch heißt es weiter: „Es ist unmöglich, irgendein Gebiet irdischer Verwirklichung aus dem Gleichnischarakter herauszunehmen. Von irgendeinem Stück irdischer Wirklichkeit behaupten, daß hier das Göttliche, Jenseitige, Ewige anders als im Gleichnis oder als im Bild gegenwärtig wäre, heißt ‚Gott verwandeln in ein Bild’ und dies Bild anbeten.”

LeerIn der „Kirche für andere” wird nicht nur ein Teil der sichtbaren Wirklichkeit herausgenommen und angebetet, etwa das Volk, die Rasse, das Vaterland oder die Klasse, sondern die sichtbare Wirklichkeit als Ganzes: die „Welt”. So erstaunlich es erscheinen mag, die Verfasser der Studie vertreten einen Pansakralismus mit säkularem Vorzeichen. Im Rahmen dieser Konzeption ist es durchaus folgerichtig, wenn von einem „Gottesdienst im Namen der Welt” gesprochen wird: nicht im Namen Jesu, im Namen des Dreieinigen Gottes! Gewiß ist nicht alles, was hier steht, abzuweisen. Wer wird den Verfassern der Studie nicht zustimmen, wenn sie sagen: Nur dort ist echter Gottesdienst, „wo sowohl die vertikale als auch die horizontale Dimension vorhanden ist, d. h. die Gemeinschaft mit Gott und die Teilnahme an seiner Mission in der Welt”. Oder: „Die Kirche feiert in Christus stellvertretend für die Welt den Gottesdienst, ja eigentlich als die Welt (Erstling, pars pro toto).”

LeerAber darf man deswegen von einem Gottesdienst „im Namen der Welt” sprechen? „Im Namen” heißt doch: „Im Auftrag von .. .”. Wer oder was ist denn diese Welt, die uns - angeblich - zum Gottesdienst beauftragt? Wie an anderer Stelle der Studie gesagt wird, hat Jesus sich mit „der Welt” identifiziert. In dieser Behauptung müssen wir die christologische Voraussetzung für viele Aussagen zum Gottesdienst sehen. Es wird deutlich, wie sehr sich die Studie von der Sprache des Neuen Testamentes entfernt hat. „Welt” steht dort für die griechischen Begriffe kosmos (räumlich) oder aion (zeitlich). Es ist undenkbar, daß die frühe Christengemeinde sich „im Namen des Kosmos” oder „im Namen des Aion” versammelt hätte! Diese Welt hat keine Qualität, auf Grund derer sie zum Auftraggeber für den Gottesdienst der christlichen Gemeinde werden könnte. Ein Gottesdienst im Namen der Welt entspricht, auf einer „höheren” Ebene, dem Gottesdienst im Namen des Volkes.

LeerSo sehr heute - nicht nur in der Studie! - das Pauluswort (Röm. 12,1) vom „vernünftigen Gottesdienst” strapaziert wird (wer kümmert sich noch um den Unterschied zwischen unserem Begriff „vernünftig” und dem griechischen logikós!), so wenig wird beachtet, wie dieses Wort weitergeht: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes ...” Völlig abwegig ist es, wie es heute - durchaus im Sinne der Studie - öfter zu hören ist, „diese Welt” des Neuen Testamentes mit „dieser Gesellschaft” gleichzusetzen - als ob der neue Aon mit einer zeitlich späteren Gesellschaftsform auf dieser unserer Erde identisch sein könnte!

Linie

LeerIm lateinischen Text des Neuen Testamentes ergibt sich hier ein interessantes Wortspiel: nolite conformari huic saeculo sed reformamini . . . Die Studie wird mehr zum Konformismus mit der Welt als vom Willen zur Reformation der Kirche zum Heil der Welt bestimmt! Das Berneuchener Buch, das wiederum die „Welt” keineswegs draußen läßt, erkennt ihr jedoch nicht den letzten Wert zu: „Es gibt kein Gebiet des Lebens, das nicht zum durchscheinenden Gleichnis, zur Durchbruchsstelle der göttlichen Offenbarung werden könnte; die Zeit in ihrem unerbittlich und unwiederholbar dahinströmendem Gang wird zum Hinweis auf die ewige Macht, die uns zu einem letzten Ziele, einem letzten Gericht und einer letzten Vollendung entgegenführt.”

LeerFür das überlieferte protestantische Gottesdienstverständnis - bei Theologen und Laien - stand jahrhundertelang die Predigt im Mittelpunkt. Wir sind in unserer Kritik der Studie bisher nur beiläufig auf die Predigt gestoßen und tatsächlich ist als Gemeinsamkeit der Genfer Reformschrift und des Berneuchener Buches festzustellen, daß in ihren Überlegungen zum Gottesdienst die Predigt eine untergeordnete Rolle spielt. Vor einem halben Jahrhundert war das für viele Kirchenleute durchaus anstößig und als Einwand gegen Berneuchen wurde oft ins Feld geführt, daß man dort - angeblich - die Predigt vernachlässigte. Das Berneuchener Buch wendet sich gegen eine - auch heute noch anzutreffende - Beschränkung des Begriffes Verkündigung auf die mündliche Rede, gegen eine Gleichsetzung des Anhörens der Predigt mit dem Hören des Wortes: „Ja, es bleibt zu wünschen, daß der Weg einer in verschiedene Ausdrucksmittel gegliederten Verkündigung häufiger beschritten wird, weil er weniger als die Predigt an den Menschen mit seiner besonderen Begabung und seinen besonderen Schwächen bindet, und weil diese Verkündigung für viele, an denen die Predigt völlig vorbeigeht, wirklich das Wort Gottes herantragen kann.” Dennoch „kann und soll das persönliche Zeugnis von der sich offenbarenden Gottesgnade nicht ausgeschaltet werden. Es liegt im Wesen des Gotteswortes, daß es durch das Medium geschichtlicher und persönlicher Vermittlung zu uns kommt . . . Darin liegt das unveräußerliche Recht der Predigt und ihrer beherrschenden Stellung im evangelischen Gottesdienst”.

LeerWas sagt demgegenüber die Studie zur Predigt? In den Empfehlungen am Schluß wird sie überhaupt nicht erwähnt. Einmal wird sie, wie wir schon feststellten, als eines der Mittel bezeichnet, die dazu dienen, „Gottes Handeln in den gesellschaftlichen Ereignissen zu entdecken”. Aus dem Kapitel „Ausrüstung zum Gespräch” kann man jedoch entnehmen, daß die Predigt überhaupt durch das Gespräch abgelöst werden soll. Worum geht es in diesem Gespräch? Die Antwort lautet: „Das Gespräch findet zwischen Christen mit speziellem Fachwissen und ihren Berufs- bzw. Fachkollegen statt. Anders ausgedrückt: Die wichtigsten Partner im Dialog müssen die Laien der Kirche in ihren verschiedenen sozialen Rollen und Funktionen sein. Es ist in der Tat der Laie, der berufen ist, der Missionar unserer Zeit zu sein.” Die Laien sollen also geschult (!) werden, damit sie eine bestimmte theologische Kompetenz gewinnen, „z. B. beim Bibelstudium und in der Fähigkeit, eine menschliche Situation in ihrer Beziehung zum Handeln Gottes in Christus zu sehen”. Daraus ergibt sich in der Studie die Folgerung: „So gesehen werden viele der traditionellen Funktionen der Predigt - biblische Auslegung, Einübung im Urteil, Reflektion der augenblicklichen Lage - durch einen Prozeß der Zurüstung übernommen werden.”

Linie

LeerHier stehen wir nun wirklich vor einer radikalen Abwertung der Predigt. Aber ist es nur eine Abwertung der Predigt? Im Berneuchener Buch geht es darum, die Predigt aus ihrer Isolierung herauszuholen und die Predigt-Sprache so zu erneuern, daß sie eindringt „in die Sphäre des wirklichen Lebensraumes”. Es sollte deutlich werden, daß sie nur eine - wenn auch sehr wichtige - Form der Verkündigung ist. In der Studie ist demgegenüber Gottesdienst als Verkündigung überhaupt nicht mehr im Blickfeld. Unter der Devise „Dialog an Stelle des Monologes” wird die „vertikale Dimension” praktisch ausgeklammert. Demgegenüber heißt es im Berneuchener Buch: „Das Hören des Wortes ist die Form, in der allein der Mensch wirklich seinem Herrn begegnet und sich mit ihm verbindet.” Das wurde im Jahre 1926 gegenüber einer „mystischen Frömmigkeit betont, wo man den schweigenden Dienst über die Predigt stellt und das Sakrament des Schweigens zum Höhepunkt des Gottesdienstes machen will”.

LeerDaß der Glaube aus dem Hören kommt, wie Paulus sagt (Röm. 10,17), wird heute besonders dort zu betonen sein, wo die permanente Diskussion Ausdruck einer sich totredenden Kirche und Gesellschaft geworden ist. Trotz ihrer Abgrenzung gegen die mystische Frömmigkeit haben die Verfasser des Berneuchener Buches jedoch schon vor einem halben Jahrhundert zu sagen gewagt, daß auch das Schweigen im Gottesdienst einen Sinn hat: „Es kann als Antwort auf die Verkündigung . . . das Symbol gesammelten Hörens sein, es kann ferner als das meditierende Schweigen ein Ausdruck . . . der Sammlung, des Wartens und der Bereitschaft sein.”

LeerDiese vorsichtigen Ansätze zu einer positiven Wertung der im Protestantismus abhandengekommenen Meditation führten in den folgenden Jahrzehnten in der Evangelischen Michaelsbruderschaft, im Berneuchener Dienst und in manchen anderen evangelischen Bruder- und Schwesternschaften zu einer neuen Praxis der Meditation. Gelegentlich standen die Berneuchener unter dem Verdacht, das Gebet durch Meditation ersetzen zu wollen. Wie unsinnig dieser Verdacht war, dürfte inzwischen klar geworden sein. Heute nimmt man es meist nur zur Kenntnis, wenn Gebet tatsächlich durch Meditation ersetzt oder das Gebet lediglich als Meditation verstanden wird - weil GOTT als Gegenüber dem Blick entschwunden ist. Im Berneuchener Buch sind Gebet und Meditation nicht identisch. Im Zusammenhang mit der Feststellung, daß „die Fähigkeit zu beten . . . inmitten unserer evangelischen Gemeinden mit geringen Ausnahmen verkümmert” ist, heißt es, daß „die Kirche ihren Gliedern eine ganz elementare Hilfe schuldig (ist), durch die sie überhaupt wieder lernen zu beten”. Und weiter: „Die Anleitung zu wirklicher Meditation kann eine vortreffliche Bereitung auf diesem Wege sein.”

LeerLiturgische Anregungen der Berneuchener sind durchaus in die offiziellen Agenden eingeflossen. Die Meditation blieb jahrzehntelang „tabu”. Wahrscheinlich ist dies ein Grund dafür, daß die Übernahme der liturgischen Ordnungen durch die Gemeinden in den meisten Fällen rein formal geschah - ohne den wirklichen Mitvollzug durch Pastoren und Gemeindeglieder. Eine Antwort auf diese Abschirmung gegen die Meditation können wir in dem heutigen „Meditationsboom” erkennen: eine von Jahr zu Jahr wachsende Anzahl von Menschen öffnet sich Praktiken der Meditation, die aus dem asiatischen Raum zu uns kommen. Zu diesem Problem trägt „Die Kirche für andere” nichts bei.

Linie

LeerFür die Studie zeichnet verantwortlich die „Westeuropäische Arbeitsgruppe des Referats für Fragen der Verkündigung” beim ökumenischen Weltrat in Genf. Sie ist jedoch kein Zeugnis ökumenischer, sondern lediglich ein Ergebnis westlicher Theologie. Ein Jahr nach ihrem Erscheinen fand in Uppsala die IV. Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen statt. Von der für diese Versammlung gebildeten Sektion V „Gottesdienst” wurde ein Papier entworfen, das zunächst die Überschrift „Gottesdienst in einem säkularen Zeitalter” tragen sollte. Die einseitige Betonung der Säkularisierung wurde in Uppsala besonders von zwei Gruppen abgelehnt: einmal von der Vertretern jener Länder, in denen Stammesreligionen und Großreligionen wie Hinduismus, Buddhismus und Islam noch oder wieder eine bedeutende Rolle spielen, zum anderen durch die Vertreter der Orthodoxen Kirchen. Die „‚Orthodox Theological Society of America’ sah den Mangel dieses Entwurfes in der Annahme begründet, daß ein ‚säkulares Zeitalter’ für die Kirche eine so grundsätzlich neue Situation schafft, daß eine ebenso grundsätzliche Bestandsaufnahme des Christentums notwendig ist, die Gottesdienst, Einheit, geistliche Erneuerung und theologische Auseinandersetzung einschließt. Gerade diese Annahme, daß nur ein weltzentriertes und weltorientiertes Christentum für Christen heute möglich und erlaubt ist, macht Sektion V zu einer nicht überzeugenden Mischung von willkürlichen Fragen und angreifbaren Definitionen.”

LeerDie gleiche Kritik muß auch gegenüber der Genfer Studie „Die Kirche für andere” angemeldet werden. Ihr säkularer Missionismus kann nur als eine „Flucht nach vorn” verstanden werden. Haben wirklich die 40 am Schluß angeführten Mitglieder der „Westeuropäischen Arbeitsgruppe” die Studie unterschreiben können? Es fällt auf, daß anscheinend nur zehn Laien unter ihnen sind. Das Berneuchener Buch wurde von 48 Theologen und 23 Laien verantwortet. Die Zahl der beteiligten Frauen ist übrigens bei der Studie nicht größer als vor bald 50 Jahren beim Berneuchener Buch: Es sind hier wie dort nicht mehr als zwei! Es mag so aussehen, als ob hier - und in den vorausgegangenen Aufsätzen von Gisela Schmidt - die anachronistische Rechtfertigung eines längst überholten Buches versucht würde. Der Autor dieses Artikels muß gestehen, daß auch er auf den ersten Blick die Studie positiver sah als bei eingehenderer Beschäftigung mit ihr. Das Pathos der „Kirche für andere”, eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit und Welt zu finden, ist verständlich.

LeerFragwürdig bleibt, daß die Herausforderung zum Ausgangspunkt kirchlichen Handelns gemacht wird. Das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben . . .” ist mit dem „vornehmsten” Gebot, „Du sollst Gott lieben . . .”, zwar untrennbar verbunden, aber es ist nicht mit ihm identisch. Die Existenzberechtigung der Kirche und ihres Gottesdienstes geht nicht auf in den Aufgaben für „diese sich wandelnde Welt”. Mögen die Studie und das Berneuchener Buch in Einzelforderungen, die den Gottesdienst betreffen, oft erstaunlich nahe beieinander liegen: in der Begründung gottesdienstlichen Handelns klafft ein gewaltiger Riß. Das wird auch deutlich in den Worten, die wir am Ende des Berneuchener Buches finden: „Danach hungert das unter Sinnentleerung leidende Geschlecht: nicht nach Beratung in praktischen Anliegen oder nach moralischer Belehrung, sondern nach Feierstunden, in denen aus einer ewigen Welt ein Sinn in ihr Erdenwerk und ihr Arbeitsschicksal hineinstrahlt. Jede Verkündigung von der ewigen Welt ist aber die Verkündigung von der ewigen Welt, d. h. von dem Ende dieses Äons und von der neuen Welt, ‚in der Gerechtigkeit wohnt’. Darum mündet aller evangelischer Gottesdienst in die Bitte der Buße und der Hoffnung: Vater unser - vergib uns unsere Schuld und erlöse uns von dem Übel! Oder in das Gebet der zur Gemeinschaft des Leibes Christi Berufenen: Es vergehe die Welt, es komme Dein Reich!”

Quatember 1973, S. 212-220

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-08
Haftungsausschluss
TOP