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„Quatember” und Evangelische Akademie
von Erich Müller-Gangloff

LeerDer Neubeginn, mit dem die Evangelischen Jahresbriefe unter dem Namen „Quatember” in die Welt getreten sind, war ein über Erwarten guter Beginn. Das erste Heft hat eine solche Flut freudiger Zustimmung von allen Seiten ausgelöst, daß den für die Gestaltung der Zeitschrift Verantwortlichen vor dem bekundeten Enthusiasmus fast ein wenig bange geworden ist.

LeerDiese spontane Zustimmung hat uns aber auch ermutigt und bestärkt, auf unserem Wege weiterzugehen. Sie hat uns vor allem darin bestärkt, auf einen unverwechselbaren eigenen Auftrag bedacht zu sein, der uns allein das Recht gibt, die Reihe der bestehenden guten Zeitschriften, die heute fast alle um ihre wirtschaftliche Existenz ringen, um eine weitere zu vermehren.

LeerEs geht uns, wenn es mit wenigen Worten gesagt sein soll, um ein neues Gegenüber von Gottesvolk und „Welt”, darum, daß die Kirche Christi endlich aus der Ghettoexistenz herausfinde, in die sie sich seit Generationen allzu bereitwillig hineingefunden hat. Darum ging es bereits vor einem Menschenalter in Berneuchen, darum geht es auch heute überall, wo man von lebendiger und gegenwärtiger Kirche sprechen kann.

LeerWir haben im Weihnachtsheft unsere besondere Aufmerksamkeit den verschiedenen kirchlichen Großveranstaltungen des vergangenen Jahres, dem evangelischen und dem katholischen Kirchentag und der ökumenischen Konferenz in Lund gewidmet. In ähnlicher Weise haben wir diesmal unser Augenmerk auf die Arbeit der Evangelischen Akademien gerichtet, von der wir meinen, daß sie zu dem, was „Berneuchen” einmal erstrebte, in ganz besonderer Nähe gesehen werden muß. Die Akademien sind in vieler Hinsicht eine ähnliche Aufbruchsbewegung in der Kirche nach dem zweiten Weltkrieg, wie es Berneuchen nach dem ersten Kriege war. Es scheint uns ein glückliches Zusammentreffen, daß wir im gleichen Quatemberheft, das den Akademien gewidmet ist, über dreißig Jahre hinweg auf die Berneuchener Anfänge zurückgeführt werden.

LeerDas Thema „Evangelische Akademie” ist nicht nur unmittelbar im Leitaufsatz von Gerhard Hildmann, dem Studienleiter der Akademie Tutzing, behandelt, sondern es kehrt leitmotivisch in einer ganzen Anzahl von Aufsätzen wieder. Und der Kenner der Akademien und ihrer Wirksamkeit wird auch dort noch Beziehungen zum Thema finden, wo sie nicht ganz offen zutage liegen. So geht der Aufsatz von Helmuth Uhrig auf ein Referat zurück, das er an der Evangelischen Akademie in Hofgeismar - damals noch Guntershausen - gehalten hat, und Eugen Rosenstock-Huessys Reflexionen über Trinitas und Quatember wurden durch seine Teilnahme an einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin angeregt. Leider war es in der Kürze der verfügbaren Zeit nicht möglich, für die Rubrik „Berichte” eine Reihe aufschlußreicher Tagungsberichte verschiedener Akademien zu erhalten. Doch werden die Akademieberichte aufs erfreulichste durch den Aufsatz von Professor Hoekendijk-Utrecht ergänzt, der auf die Niederschrift eines Vertrages vor Vertretern kirchlicher Laienarbeit in Chateau Bossey zurückgeht. Denn Bossey ist in mehr als einer Hinsicht die ökumenische Entsprechung zu unseren Evangelischen Akademien.

LeerDa der Schriftleiter von „Quatember” zugleich ein Akademieleiter ist - der Berliner als der jüngsten in der Reihe der Evangelischen Akademien Deutschlands -, sei es ihm bei dieser Gelegenheit erlaubt, einige Bemerkungen zum Thema anzufügen, die das in den verschiedenen Beiträgen Gesagte ergänzen sollen. Mit der Begründung der Evangelischen Akademie Berlin, die im Gefolge des großen Berliner Kirchentages geschah, wurde die Lücke geschlossen, die bis dahin die West- und die Ostarbeit der Akademien trennte. Insofern hatte die Berliner Gründung eine Art abschließenden und abrundenden Charakter nach einer Anfangsperiode von nahezu sieben Jahren. Zugleich damit ist die Gesamtentwicklung der Akademien in ein neues Stadium getreten, das man als institutionelle Festigung kennzeichnen könnte. Sinnbild dafür ist die Übersiedlung vieler zuerst nur vorübergehend und primitiv behauster Akademien in neue, wesentlich repräsentativere Häuser. So übernahm die Frankfurter Akademie das frühere Ordenshaus der Evangelischen Michaelsbruderschaft in Assenheim, die andere hessische Akademie zog von Guntershausen in das Landgrafenschlößchen Hofgeismar, die Akademie Hermannsburg baute sich im alten Kloster Loccum an, und die rheinische Akademie breitete sich von Hemer nach Mülheim aus.

LeerDamit haben sich die Akademien - ungeachtet aller Kritik an ihrer Wirksamkeit im einzelnen - als ein nicht allein dynamisches, sondern nun auch konstitutives Element der Evangelischen Kirche von heute erwiesen. Das rechtfertigt einen Blick in die Geschichte, der, nicht bei dem Gründungsdatum 1945 beharren darf. Nicht zufällig ist seit diesem Datum ein gewisser Wildwuchs von Akademien zu verzeichnen: von der Europäischen und Abendländischen Akademie bis zur „Academia moralis” in Köln gibt es neben den Evangelischen Akademien eine Reihe mehr oder weniger spontaner Neugründungen, die man unter den verschiedensten Gesichtspunkten betrachten kann. Doch scheint allen solchen Gründungen gemeinsam zu sein, daß neu nach dem Wesen der Akademie gefragt wird, das ja schon lange vorher fragwürdig geworden war.

LeerVielleicht ist es kein ganz belangloser Zufall, daß 1945 fast auf das Jahr genau ein Halbjahrtausend seit der Begründung der florentinischen „Academia Platonica” durch die Mediceer im Jahre 1444 vergangen war. Denn in diesem halben Jahrtausend hatten die Akademien des Abendlandes mit der Neubelebung griechischen Denkens nicht nur eine beispiellose Blüte, sondern zuletzt auch einen erheblichen Niedergang erlebt. Er sprach sich nicht zuletzt im Gebrauch dieses Namens für mittlere Hochschulen wie Kunst-, Berg-, Forst- und Pädagogische Akademien aus.

LeerCosimo von Medici knüpfte mit der Akademie von Florenz an eine fast tausend Jahre zuvor erloschene Überlieferung an: 529 war die Akademie von Athen geschlossen worden, nachdem sie selber annähernd ein Jahrtausend lang bestanden hatte. Der große Platon war es, der im Haine des athenischen Lokalheros Hekademos jene Philosophenschule begründete, nach der seit zweieinhalb Jahrtausenden alle Akademien den Namen führen.

LeerVielleicht muß man in der Tat bis zu diesem frühesten Ursprung der Akademie zurückgehen, um den Sinn des heutigen Neubeginns zu erfassen. Denn uns ist heute nicht allein das Neugriechentum der Renaissance und Aufklärung, sondern auch das dualistische Denken des älteren Griechentums - nicht zuletzt gerade Platons - fragwürdig geworden. Es scheint erst heute so weit, daß das biblische Denken vom ganzen Menschen her den dualistischen Denkansatz des klassischen Griechentums zu überwinden beginnt. Trifft diese Sicht zu, so leben wir in der Zeit einer geistesgeschichtlichen Wende und eines Umdenkens ohnegleichen, das Dimensionen öffnet, die wir gerade erst ahnen können.

LeerIm gleichen Augenblick aber, in dem wir uns von den Denkinhalten der Griechen abkehren, erhalten ihre Denkmethoden ganz neue Bedeutung für uns. Wir begreifen wieder, mit Buber zu sprechen, den dialogischen Charakter allen konkreten Denkens. Von daher werden uns der in Dialogen denkende Platon und noch mehr sein Meister Sokrates von neuem wichtig und bedeutsam. Wir müssen uns die Kunst der Mäeutik, die bei uns in Jahrhunderten lehrmäßiger Scholastik und Systematik verkümmert ist, neu erwerben, jene „Hebammenkunst” des großen Philosophen, die es verstand, die Wahrheit gleichsam im Gespräch zu entbinden.

LeerSo kann die Paradoxie des Namens „Evangelische Akademie”, mit dem zugleich an Sokrates-Platon und an Jesus Christus angeknüpft wird, eine positive Sinndeutung finden. Die Evangelischen Akademien sind heute Stätten des Gesprächs, das sich im Gegenüber zur ungeteilten Wahrheit des Evangeliums entfaltet. Wenn es aber in der Tat um die Wahrheit des trinitarischen Gottes geht, dann gehört es zu den wichtigsten Aufgaben dieser Zeit, planend und schaffend mitzuwirken an der Gestaltung einer wirklichen „Akademie aus dem Evangelium”.

Quatember 1953, S. 126-127

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-29
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