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Drei Fragen zur Liturgie heute
von Waldemar Wucher

LeerWenn Überlegungen zur Frage der Liturgie nicht aus der engen Sicht eines Fachgebietes erfolgen, sondern wie bei der Agape-Ansprache auf dem Michaelsfest 1980 in Gallneukirchen im Dreiklang von Martyria, Leiturgia und Diakonia, dann klingen sogleich neue, meist vernachlässigte Saiten an. Über Martyria hat Ernst Hofhansl nicht theoretisch und nicht theologisch gesprochen, sondern er hat in seinem wohldifferenzierten Erlebnisbericht von einem Besuch bei Glaubensbrüdern, die in Diaspora und Bedrängnis leben, hautnah empfinden und erkennen lassen, was Martyria als lebendiges Geschehen bedeutet. Ich hatte ihm als meinem Vorredner dafür eigens zu danken, denn auch über Liturgie zu sprechen, heißt an eine Erfahrung anknüpfen, für die der große Arzt Paracelsus seinen Lieblingsbegriff von der "Stunde der Zeit" geprägt hat. Wir wissen zwar, daß es eine Liturgie-Geschichte gibt, wagen es aber kaum, den geschichtlichen Wandel zu bejahen, den sinnfällig ein anderer, ein zeitgenössischer Arzt und Dichter, offenbar aus einer tiefen Erfahrung der Gegenwart heraus, in das Bild gefaßt hat: "Die Himmel wechseln ihre Sterne" (Gottfried Benn). Sollen christliche Heilsgewißheit und Lob und Dank dafür an eine Liturgie gebunden sein, die vom Werden alles Lebendigen unberührt bleibt?

LeerWas Hartmut Löwe kürzlich in "Quatember" über ein wachsendes Unbehagen an der Art und Weise unseres liturgischen Handelns gesagt hat, hängt damit zusammen und läßt uns fragen, ob die liturgische Erneuerungsbewegung, mit der man die Evangelische Michaelsbruderschaft so gern identifiziert, denn schon an ihr Ziel gekommen ist oder ob sie sich in der Reform von Formularen erschöpft. Ich will von der Fein- und Weiterarbeit an Texten und Noten nicht sprechen, die manchmal an ein Glasperlenspiel erinnern. Aber Leiturgia hat doch wohl noch eine andere, nicht weniger wichtige Dimension, und um diese geht es. Ich will einige Gedanken dazu - und eine Agape-Ansprache gibt die Freiheit zu improvisieren - mit drei Fragen verbinden.

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1. Erschöpft sich Liturgie im gedanklichen, verbalen oder musikalischen Nachvollzug liturgischer Formulare?

Leer Gewiß: Nicht zuletzt im Aufbruch der Michaelsbruderschaft ist der Blick von neuem auf die Fülle aller Liturgie gelenkt worden, und die erste Generation der Brüder war von dieser Entdeckung innerlich bewegt und durchdrungen. Daran dürfen wir uns auch heute dankbar erinnern. Aber sollten wir uns nicht in dem darauf folgenden Rekapitulationsprozeß, in dem die liturgischen Formulare auf historische Quellen zurückgeführt und mit theologischem Handwerkszeug immer subtiler ausgeformt wurden und in dem wir uns noch heute befinden, der frühen Warnung Wilhelm Stählins erinnern, daß "der objektive Sinn des kultischen Handelns so einseitig betont werden kann, daß das gottesdienstliche Handeln der Gemeinde als der eigentlichen Trägerin der Liturgie ganz unwesentlich wird oder völlig verschwindet hinter dem Dienst dessen, der als Stellvertreter Christi die liturgische Funktion am Altar vollzieht"?

Genter Altar - Lamm GottesIch möchte sinnfällig machen, worum es geht, indem ich an ein wohl allen bekanntes Bild erinnere, das vor rund 550 Jahren entstanden ist und zu den größten Kunstwerken des abendländischen Christentums zählt. Im Genter Altar der Brüder van Eyck begegnen und durchdringen sich die Bilder der himmlischen und der irdischen Liturgie. Während um den Altar herum die Engel anbeten und lobsingen, drängt in einer großen Bewegung und Bewegtheit zu Fuß und zu Pferd "die Gemeinde" von allen Seiten heran. Die heilige Handlung vollzieht sich inmitten einer grünen Wiese wie auf einem Blumenteppich, und der Blick ist ringsum geöffnet in eine bewegte Landschaft mit Bergen und Tälern, Wäldern und Flüssen, auf gewaltige Bauten und lebenserfüllte Straßen. Der Weltenkreis scheint in diesem großartigen Panorama mit seiner schier unerschöpflichen Fülle gespiegelt, und der meditativen Betrachtung öffnen sich immer neue Perspektiven dafür, daß die Gemeinde inmitten und im Horizont dieser Welt "die eigentliche Trägerin der Liturgie" ist. Im Spiegel dieses Bildes scheint es, daß der Drang der Jugend nach neuen Gottesdiensten, an deren Gestaltung sie selbst aktiv beteiligt ist, nicht schlechthin Neuerungssucht ist, sondern ein oft noch unartikulierter Ausdruck dafür, daß Liturgie nach menschlicher Kommunikation verlangt, aber sie viel zu selten findet. Sinn des kultischen Lebens ist es, daß es heilend hineinwirkt in das bedrohte menschliche Miteinander in dieser Welt. Wilhelm Stählin hielt die Kritik an einer an ehrwürdigen und schönen Formen reichen Liturgie für legitim, die es - so wörtlich - "an brüderlicher Liebe und praktischer Verantwortung für die notleidenden Brüder fehlen läßt". Jugendliche, auch Bruderkinder, mit denen man darüber spricht, meinen, daß Leiturgia zu wenig Licht von der Seite der Diakonia her empfängt. Wir sollen wenigstens kleine Schritte tun, aber ohne zu zögern und in großer Freiheit. Das schmale Heft "Abendmahl in der Tischgemeinschaft" in der Reihe "Kirche zwischen Planen und Hoffen" zeigt Wege und könnte ein erstes Zeichen der Besinnung sein. Deutlich wird dieses Fragen und Hoffen dort, wo Gottesdienst heute gemeinsam vorbereitet und gestaltet wird. Als kleines Beispiel habe ich in "Quatember" einen Arnoldshainer Ostergottesdienst unter dem Stichwort "Liturgie geschieht" geschildert, und es wäre hilfreich, wenn wir unsere im engen Kreise geübten strengen Formen hier und da auch gegen Experimente zusammen mit Jugendlichen eintauschen würden, um aus solcher Kommunikation auch selbst zu lernen.

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2. Was bedeutet Leibliches, Sinnliches, Welthaftes für das liturgische Geschehen?

LeerLiturgie droht zur Magie zu werden, wenn - noch einmal Wilhelm Stählin - "das gottesdienstliche Handeln der Gemeinde unwesentlich wird oder ganz verschwindet." Es sind in Jahrhunderten eingewohnte leibliche und geistige Verhaltensweisen, die es zu überwinden gilt, wenn die liturgische Erneuerung auch die Gemeinde und die Gemeinden ergreifen soll. Wo dies nicht erkannt wird, scheitern alle Bemühungen von bruderschaftlichen Gemeindepfarrern, eine reichere liturgische Praxis den Gemeinden überzustülpen. Doch gilt das nicht weniger für unser eigenes liturgisches Leben. Ich will nur auf zwei Verhaltensweisen hindeuten, die von uns noch kaum wieder wahrgenommen oder gar geübt werden. Das eine ist der Raum und damit verbunden die Erfahrung des Raumes. In dem fünfbändigen Sammelwerk "Leiturgia" hat Gerhard Langmaack darüber viel Schönes geschrieben. Es heißt dort u. a.: "Durch die vordergründige Auffassung des Menschenleibes und durch die materialisierte und technifizierte Auffassung des Raumes ist uns die Besinnung auf das Ganze von Liturgie und Raum fremd geworden und sind uns ihre Ausdrucksmittel verkürzt". Und: "Die Liturgie, die diesen Menschen als Individuum wie auch als versammelte Gemeinde nicht als Ganzes verlangt, erleuchtet, anspricht oder anrührt, bleibt 'unvollkommen', und der Raum, der in seiner Erscheinung nicht den ganzen Menschen wie auch die Gemeinschaft gleicherweise bewegt, indem er auf alle Sinne einwirkt, bleibt - nun als gottesdienstlicher Raum genommen - unvollkommen'." Raumerfahrung aber will heute erst wieder geübt werden. Erste Schritte dazu in Kirchen und damit als Vorstufe liturgischen Geschehens sind außerhalb der Michaelsbruderschaft getan worden, als ein Arbeitskreis der Evangelischen Akademie Arnoldshain Erfahrungen sammelte, indem jeweils 40-50 Teilnehmer 2-3 Tage in einer mittelalterlichen Kirche gelebt und Gottesdienst gefeiert haben. Ein Österreicher, Professor Herbert Muck, gab Anleitung zur Raumerfahrung. Daß diese Experimente auch dazu verholfen haben, die Bedeutung alter Kirchen mit ihrer kaum erkannten, meist hervorragenden Raumgestalt und die Möglichkeit ihrer vielseitigen Nutzung den Gemeinden ins Bewußtsein zu rufen, ist einer der vielen Wege zur "Erneuerung der Kirche".

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LeerUnkonventionelle Wege, die Gemeinde zur lebendigen Trägerin der Liturgie werden zu lassen, hat ein anderer Wiener, der Architekt Ottokar Uhl in die folgende Aufforderung gekleidet:
bewegt euch in den Kirchen natürlich
bleibt Menschen, lacht und weint
bringt die Kinder in die Kirche mit
laßt eure Kinder schreien oder spielen
bei Bedarf macht in der Kirche einen Kindergarten
wenn die Kirchen zu hoch sind, zieht Zwischendecken ein
singt eure Lieder
geht aus der Kirche weg und feiert sonstwo
diskutiert mit dem Priester statt der Predigt
äußert euch, wenn ihr anderer Meinung seid
stellt den Altar gelegentlich um, wenn ihr nicht hinseht
helft einander
bringt Geschenke gegenseitig mit
feiert eure Feste
freut euch gemeinsam, wenn einer sich freut
trauert, trauert gemeinsam
überlegt euch neue christliche Lebensformen.
LeerOttokar Uhl ist davor geschützt, als maßlos oder schwärmerisch angesehen zu werden. Von ihm eingerichtete Gottesdiensträume, z. B. die Kapelle des Priesterseminars in Kloster Melk oder die Kapelle des katholischen Studentenheims in Wien, sind von einer bemerkenswerten Kargheit und lassen umso elementarer die Raumgestalt in ihrem Bezug zur Liturgie der Gemeinde erfahren.

LeerÜber "Liturgie und Kirchenraum" in diesem weitgespannten Sinne wird im kommenden Jahr ein erstes Seminar stattfinden, das von der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Arnoldshain geplant ist und eine noch wenig erkannte Seite der liturgischen Erneuerung bewußt machen will. [Vgl. den Bericht des Autors in Quatember 1982]

LeerEin anderer Weg zur liturgischen Mündigkeit der Gemeinde führt über die Meditation. Ich denke hierbei nicht an die vielen angestrengten Bemühungen, meditative Methoden zu erforschen und zu entwickeln, sei es östlicher oder westlicher Herkunft, die darauf ausgehen, "eins zu werden" mit einem bestimmten, vorgegebenen Wort, Bild oder sonstigem Ziel. Ist nicht jahrzehntelange Arbeit daran zuletzt Spezialistentum geblieben, das es nicht vermocht hat, meditative Haltung auch nur der bruderschaftlichen Gemeinde im Vollsinn des Wortes zu wecken? Nicht punktuelles Meditieren scheint hier weiterzuführen, sondern eine veränderte Grundhaltung, "Meditation im Alltag".

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Darüber hat schon vor vielen Jahren Otte Haendler nachgedacht und geschrieben, und wer mit ihm Meditationstagungen erlebt hat, weiß, daß hier sein Hauptanliegen zu finden ist. Was "Meditieren heißt", hat er folgendermaßen umschrieben:

gegenwärtig werden Leer etwas Gewalt über sich bekommen lassen
zu sich kommen in Bewegung geraten
bei sich sein begeistert werden
aufmerksam sein verweilen
sich öffnen Fülle gegenwärtig haben
wahrnehmen einsinken lassen
anschauen in die Wahrheit hineinwachsen
sich erinnern sich in Besitz nehmen lassen
sich vorstellen einüben
etwas befragen sich zu Herzen nehmen
sich besinnen beherzigen
vergleichen eingewöhnen
n Beziehung bringen sich aneignen
ahnen sich entscheiden
etwas in sich aufsteigen lassen nachklingen lassen
sich in jemanden hineinversetzen sich durchdringen lassen
nachfühlen die Wertordnung herstellen
in sich aufnehmen einprägen
sich der Wirklichkeit aussetzen Raum geben
sich stellen erwecken
begreifen erneuern
in neuem Lichte sehen Konsequenzen ziehen
eindringen unter der Wahrheit anders werden
sich in etwas vertiefen begegnen
sich versenken anblicken
warten sich öffnen
nachvollziehen fragen
eindringen lassen bitten
angerührt werden verlangen
betroffen werden vertrauen
sich ergreifen lassen lieben
realisieren sich hingeben
ermessen anbeten
warten sich unterwerfen
wiederholen sich austauschen
in sich tragen sich preisgeben
nacherleben danken
ausschöpfen loben
verkosten bereuen
sich hingeben trauern
auf sich wirken lassen Schmerz empfinden
in sich hineinnehmen sich freuen
ins Herz schließen jubeln
im Herzen tragen sich überantworten
sich berühren lassen sich anvertrauen
sich eingestehen eins werden


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3. Gibt es Liturgie außerhalb der Geschichtlichkeit des Lebens und Geistes?

LeerGünther Howe hat ein ganzes Leben daran gesetzt, uns nahezubringen, daß das Herrenmahl etwas mit dem wissenschaftlich technischen Zeitalter zu tun hat wie mit jedem vorangegangenen.

LeerHans Rudolf Müller-Schwefe hat vor einiger Zeit wieder daran erinnert. Die Replik, die sein Beitrag mit einem in "Quatember" veröffentlichten "Brief" ausgelöst hat, hat aus einem tiefen Mißverstehen Vordergründiges herausgelesen. Aber hat nicht liturgisches Geschehen sehr viel zu tun mit dem geschichtlichen Werden der Menschheit, der Völker und Kulturen? Die Bemühungen Howes und nach ihm des "Howe-Kreises" um ein dem Zeitalter gemäßes Verständnis des Herrenmahles mögen dem äußeren Anschein nach nicht gegriffen haben. Einen führenden Physiker und Philosophen wie Carl Friedrich von Weizsäcker haben sie zum kritischen Freunde der Michaelsbruderschaft gemacht. Ich werde also auch an dieser Stelle nicht theoretisieren, sondern Namen und Beispiele nennen. Und als Zweites sei daher das Bemühen des unlängst verstorbenen Schriftleiters von "Quatember" Heinz Beckmann genannt. Er hat um den viel weiter gespannten Horizont des Liturgischen gewußt, vielleicht weil er als Nicht-Bruder die Bruderschaft unbefangener, in liebendem Abstand beobachtete. Wiederholt hat er mir gesagt, ja geklagt, wie not es täte, durch "Quatember" die Stimmen der Dichter, Maler und Musiker unserer Zeit zu hören und zu bedenken, um uns mit der Gestimmtheit vertraut zu machen, die unserem Zeitalter eigen ist.

LeerDie Bilder der Künstler nicht weniger als der Physiker scheinen ein Zweifaches zu zeigen. Das Eine ist der Blick ins Universale, was etwa mit Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" anhebt und - wie die große Ausstellung beim Berliner Katholikentag 1980 gezeigt hat - heute zu einer tiefen und breiten Erfahrung im Bereich der Künste geworden ist. Das Andere ist ein neues Verstehen und künstlerisches Gestalten des der Bibel eigenen Realismus. Es gibt eine neue Wahrnehmung dessen, dass in Christus der Schöpfer selbst eingetreten ist in die irdische Welt und Anteil nimmt an unserer anscheinend immer gefahrvolleren Geschichte. Beispiele dafür gibt es in der Bildenden Kunst, in der Literatur und in der Musik. Den Anteil der Musik an diesem Problem hat soeben Oskar Söhngen, der Altmeister kirchenmusikalischer Forschung und Förderung, doch einmal hellsichtig analysiert. Beides scheinbar Divergierende zusammen - die Öffnung hin zum Universalen und die Bejahung der Realität des Eintretens Gottes in und für diese Welt - eine Art coincidentia oppositorum - wird künftig als eine neue Weise der Transzendenz unverzichtbar sein für eine Leiturgia, die welthaftes Geschehen im umfassenden Sinne ist.

LeerIst nicht die Zeit gekommen, darüber nachzudenken, was liturgische Bewegung fünfzig Jahre später bedeutet und fordert? Die himmlische Liturgie ist das Bild der Fülle. Es erinnert, daß Liturgie auch hier und heute der Fülle bedarf. Sie sollte lebendiges Zeugnis sein einer mit allen Sinnen feiernden Gemeinde, die sich als Koinonia versteht, die ihre Kirchen als Räume erlebt und zu öffnen weiß, die im Alltag aus meditierender Bereitschaft offen ist für die Fragen und Nöte der Gegenwart und in ihnen Gottes Gegenwart zu erkennen und zu deuten versteht, damit Leiturgia auch wieder in die Nähe der Diakonia gerät.

Quatember 1981, S. 87-93

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-27
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